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Diverses - Geschichten

Diverses - Geschichten

Titel: Diverses - Geschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sigrid Lenz
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zulässt, dass die Gier zu stark in ihm wird. Selbst wenn er die Wahrheit erkennt, so kann er nie zurücknehmen, was er getan hat.“
    Sascha rieb sich nachdenklich über den Nasenrücken. Seine großen Augen wurden traurig. Er sah zu seinem Onkel auf. „Aber Josef hat doch bereut. Muss da nicht jemand Erbarmen mit ihm haben?“
    Onkel Johannes lächelte, doch sein Lächeln wirkte müde. „So ist die Welt nicht“, sagte er nach einer Weile.
    „Nicht einmal die Phantasiewelt.“
    Sascha knabberte an seiner Unterlippe, schüttelte dann nachdenklich den Kopf.
    „Aber in der Weihnachtsnacht geschehen doch immer wieder Wunder. Was, wenn ein Engel herabsteigt und den Josef zu sich heraufholt in den Himmel. Hat er denn nicht genug gebüßt?“
    Johannes lachte, doch es klang bedrückt. „Für manche Sünden gibt es keine Vergebung.“ Er klopfte Sascha liebevoll auf die Schulter.
    „Aber du bist richtig, mein Junge. Ein wenig Mitgefühl kann nicht schaden. Und dennoch solltest du immer daran denken, dass es besser ist, nicht auf die Verlockungen des Bösen hereinzufallen. Es ist immer stärker als du.“
    Sascha schauderte. „Das werde ich nicht“, versprach er leise und Johannes nickte. Auch wenn sein Gesicht nicht glücklich wirkte, so schien er dem Jungen doch beruhigt.
    „Was erzählst du ihm da nur wieder?“ Ein Arm schob den größten der Tannenzweige zurück, so dass die Silberkugeln daran klirrten.
    „Autsch“, fluchte Saschas Mutter, als sich die Nadeln in ihre weiße Haut bohrten, bevor sie einen ärgerlichen Blick in die Zuflucht des Jungen und seines Onkels warf.
    „Setze ihm nur keine Flausen in den Kopf.“
    „Würde ich doch nie“, zwinkerte Johannes ihr zu.
    „Du weißt, wovon ich rede.“
    „Von meinen radikalen Ansichten und meiner abweichenden Gesinnung?“
    „Von deiner Lebensart.“ Sie verdrehte die Augen.
    „Außerdem gehört Sascha nun ins Bett. Er hat genug gefeiert für heute.“
    Sascha sträubte sich nicht. Abgesehen davon, dass er diesen Ton kannte, sah er der Ruhe erleichtert entgegen. Sein Kopf war angefüllt mit glitzernden Äpfeln, Teufeln und erschreckenden Bildern.
    Widerspruchlos zog er sich zurück, lauschte auf die dumpfen Geräusche des andauernden Festes im Stockwerk unter sich. Er horchte auf das Klappen der Tür, wusste, dass es Johannes war, der sich nun verabschiedete, der keinen Grund mehr sah, weiter auf einem Fest auszuharren, dem er ebenso wenig bewohnen wollte, wie die Feiernden ihn dabei haben wollten.
    Unwillkürlich atmete Sascha auf und kuschelte sich zugleich tiefer in seine Bettdecke. Er versuchte an den Weihnachtsbaum zu denken, an das Glitzern des Lamettas, an den Duft der Kerzen und den Zauber des Festes. Aber das Einzige, was ihm in den Sinn kam, war die Geschichte, die Johannes ihm erzählt hatte.
    Sascha bekam das Bild des Apfel-Josefs nicht aus seinem Kopf. Ein ausgemergelter Mann mit einem Kopf, der fast einem Totenschädel glich, und der vor der Tür des Friedhofs stand und seine Hand ausstreckte. Der in alten Lumpen zitterte und fror. Und der doch nur Beiwerk war für den strahlenden Edelstein, den er in seinen Fingern hielt. Der alles tat, um sich im Hintergrund zu halten, um die Aufmerksamkeit von sich abzulenken und stattdessen unwillige Käufer anzulocken. Der nach ungezählten Jahren des Wartens in der Erde auf den Aufstieg in eine kalte Winternacht seinen Widerstand aufgegeben hatte. Der sich nun nichts mehr ersehnte, als von Luzifer in dessen Armen aufgenommen zu werden. Der nichts mehr wollte, als dass sein Elend ein Ende habe. Und der dafür auch in Kauf nahm, dass ein anderer Mensch das gleiche Schicksal erlitt, das er durchlitten hatte.
    Sascha warf sich hin und her. Der Schlaf wollte nicht kommen. Er suchte in sich nach der Furcht, nach dem Schrecken, den die Geschichte in ihm ausgelöst hatte. Aber das Einzige, was er fand, war Mitleid. Grenzenloses Mitleid für den armen Mann, der in eine solche Falle getappt war.
    Die Nacht schritt voran, und öfter und öfter begannen die Türen zu klappen. Die Besucher gingen einer nach dem anderen, und das Haus wurde still. Und als Sascha kein Wort, keinen Laut mehr hörte, da fasste er sich ein Herz, warf die Decke beiseite und sprang aus dem Bett. Er stand einen Moment still und lauschte.
    Als er keine Reaktion wahrnahm, kein Geräusch sein Ohr erreichte, tappte er auf leisen Sohlen zu dem Stuhl, auf dem er seine Kleider abgelegt hatte. Es dauerte nicht lange und er hatte sich angezogen.

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