Diverses - Geschichten
den Boden und schüttelte dann den Kopf.
"Der wird sich beruhigen", sagte er. "Was er gesagt hat, entspricht der Wahrheit. Doch was für ihn gilt, das gilt erst recht für uns. In dieser Nacht stehen uns alle Türen offen. Und für Josef befindet sich gerade jetzt die Tür zu Erlösung in Reichweite."
Johannes schluckte. "Und was kann ich dafür tun?"
Der Engel lachte glockenhell.
"Du brauchst nichts zu tun, das ist unser Weihnachtsgeschenk. Und das andere Geschenk, das sollte die Gewissheit sein, dass ihr beide euch wieder sehen werdet, in einer anderen, besseren Welt."
Der Blick des Himmlischen fiel auf Sascha, doch seine Worte richteten sich an Johannes.
„Du hast jetzt eine wichtigere Aufgabe. Verrichte sie sorgfältig."
Sachte fasste er Josef bei der Schulter. Schleier wirbelten hoch, bis sie beide bedeckten, vor Saschas und Johannes‘ Blicken verbargen und sich langsam vom Boden lösten, mit ihrer Fracht in die Höhe stiegen.
‚Wie ein Fahrstuhl‘, dachte Sascha.
Schüchtern schob er seine Hand in die des Onkels. "Was machen wir jetzt?"
Johannes schüttelte den Kopf. Dann sah er Sascha an und der erkannte die Feuchtigkeit in den Augen des Onkels, erkannte die Tränen, die dessen Wangen herabliefen.
"Wir gehen nach Haus", sagte Johannes.
"Wo ist das?", fragte der Junge.
Johannes umschloss Saschas kleine Hand mit seiner großen und nickte.
„Wir gehen zu dir. Aber hab keine Angst, du wirst keinen Ärger bekommen. Es war meine Schuld, und ich stehe dazu. Ich hätte dir nie davon erzählen dürfen."
Sascha überlegte einen Augenblick. "Warum warst du nie da?“, fragte er. Wenn du es wusstest, warum bist du dann nicht früher gekommen?“
"Ich wusste es nicht“, gab Johannes zu. „Ich wollte es nicht glauben, bis ich dir davon erzählt hatte, bis ich in deinen Augen sah, dass du es verstanden hattest. Dass es möglich war und kein Wahnsinn, der aus mir sprach.“
"Keiner wird uns glauben“, bemerkte Sascha. Und zum ersten Mal seit langer Zeit lachte Johannes. Es klang ein wenig dröhnend, und ein wenig verzweifelt. Aber dann nahm er Saschas Hand fest in seine und führte den Jungen über den weißen Schnee unter den funkelnden Sternen entlang durch die dunkle Winternacht, deren Magie sie erleuchtete und ihr ewigen Bestand verlieh.
Angst
Es ist finster. Sie presst ihre Augen zusammen, aber es hilft nicht. Jeder Blick auf die digitale Anzeige des Weckers ist einer zu viel. Der Tag noch nicht vorbei, und doch nähert sich die Mitternacht mit bedrohlicher Unvermeidlichkeit. Und mit der Stunde, die den kommenden Tag vom vorhergehenden trennt, diesem Niemandsland existentieller Unsicherheit, handelt es sich um exakt den Raum, den sie fürchtet.
Inmitten einer, sich ins Unendliche dehnenden Leere, wagen sich Schrecken und Dämonen der Nacht furchtlos hervor, bereit sie zu jagen, zu verfolgen und niederzudrücken. Es spielt keine Rolle in welcher Position sie sich befindet, ergibt keinen Unterschied, ob sie sich einrollt, als befände sie sich noch im Mutterleib, oder ob sie die Decke über den Kopf zieht und ihren Körper flach auf die Matratze presst in der Hoffnung, das Grauen spaziere an ihr vorbei ohne Notiz zu nehmen.
Bereits wenn sich die Geisterstunde nähert, hört sie die ersten, scheuen Geräusche. Leise noch, vorsichtig, als testeten sie, inwieweit die Luft rein, die Menschen in traumlosen, tiefen Schlaf gesunken sind. Denn vertrieben werden können sie nur von den selbstsicheren und von ihrer eigenen Bedeutung überzeugten Exemplaren, jenen, für die Zweifel ein Fremdwort bedeuten. Sie glauben nicht an Dämonen und verleihen ihnen so keine Macht.
Aber sie glaubt. Sie will es nicht, aber sie glaubt. Sie hasst es, verabscheut ihre Dummheit, ihre Naivität, erklärt sich selbst für verrückt, sobald das erste Tageslicht durch die Vorhänge dringt. Aber solange Dunkelheit herrscht, solange ist sie gefangen, solange ist sie den grausamen Geschöpfen ausgeliefert, deren Schritte in leeren Gängen hallen. Monster schleichen ihre Treppen hinauf. Die Stiegen knarren, wenn Krallenfüße gegen blankes Holz schaben. Und sie hört ihr Keuchen, vernimmt das rasselnde Stöhnen, das sich ungehindert nähert. Ungehindert, weil sie alleine ist. Selbst in einem Haus voller Menschen, ist sie als Einzige wach. Nur sie weiß, sie allein fühlt, wie die schwarze Kutte über den Boden schleift. Sie spürt, wie das Wesen sich ihr nähert, wie es sich über sie beugt, ihr seinen fauligen Atem in den
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