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Diverses - Geschichten

Diverses - Geschichten

Titel: Diverses - Geschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sigrid Lenz
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er es bereits seit ihrer ersten Begegnung getan hatte, von dem Moment an, in dem ihm klar geworden war, wer sich in diese schmuddelige Bar, in der er seinen Lebensunterhalt verdiente, verirrt hatte.
    Er wusste, dass dieser Mann ihn bemerkte, wusste, dass er jede Bewegung, jede Veränderung, jedes noch so unauffällige Ereignis in seinem Gedächtnis speicherte und jederzeit abrufen und interpretieren konnte.
    Er wusste, dass dieser Mann sich über ihn Gedanken machte, ebenso wie über jeden Anderen, mit dem er den Raum teilte, geschult darauf, in Sekundenschnelle Schlüsse zu ziehen, zu reagieren ohne den Nachteil des Zögerns.
    Und er wusste, dass er sich nicht darauf verlassen konnte, dass der kontinuierlich steigende Alkoholpegel in seinem Blut, ihn weniger gefährlich, weniger aufmerksam machen würde.
     
    Den Blick auf die goldenen Flüssigkeit in seinem Glas gerichtet, trank er stetig und gleichmäßig, als wäre es eine Aufgabe, die er zu erledigen hätte und die er beabsichtigte, so gewissenhaft zu erfüllen, wie er jede andere angehen würde.
    Nach dem vierten Glas erhob er sich für gewöhnlich, bezahlte für sein Getränk und die Flasche, die bereits für ihn bereitstand, seitdem seine Angewohnheiten bekannt waren.
    Ohne ein weiteres Wort, ohne einen Gruß verschwand er dann in der Nacht, nur um am folgenden Tag zu der gleichen Zeit erneut aufzutauchen.
     
    Jamal wusste, warum der Mann sich wünschte, vergessen zu können, warum er sich in diesem einsamen Winkel des Landes versteckte, warum er nicht vorwärts und nicht zurück konnte, warum es keinen Ort der Welt gab, an dem er zu Hause wäre.
    Er wusste es, und er war froh darüber. Eine Welt, in der ein Oliver Stiller glücklich sein durfte, wäre keine gerechte Welt, auf keinen Fall in seinen Augen.
    Jamal senkte rasch den Blick und konzentrierte sich auf seine Arbeit.
    Eine Seifenblase löste sich aus dem Spülwasser, fing für einen Augenblick sein verzerrtes Spiegelbild ein, das Bild eines jungen Mannes, der hätte attraktiv sein können, wenn ihm sein Leben und seine Achtlosigkeit nicht einen Strich durch die Rechnung gemacht hätten.
    Er spülte bedachtsam das letzte Glas und stellte es zum Trocknen auf die silberne Fläche, den einzigen Ort der Bar, von dem er wusste, dass er wirklich sauber war.
    Seufzend ließ er das Wasser ab und verwünschte ein weiteres Mal den Geiz des Besitzers, der die Anschaffung einer Spülmaschine für unnötig hielt. Er hatte nicht unrecht, war es doch mit der Stromversorgung in diesem vergessenen Teil Kaliforniens hin und wieder Glückssache, sich davon unabhängig zu erweisen hatte seine Vorteile. Dennoch nahm sich Jamal vor, den Stromkasten später genau zu inspizieren. Auf die regelmäßigen Stromausfälle konnte er ebenso verzichten wie auf die regelmäßige Erinnerung an eine längst verdrängte Vergangenheit, die ihn in Gestalt dieses dunklen Schattens der Erinnerung täglich einholte.
     
    Er merkte zu spät, dass er seine Maske fallen gelassen und die aufgesetzte Teilnahmslosigkeit wenn auch nur für den Bruchteil einer Sekunde verloren hatte. Doch es war genug gewesen, um sich zu verraten.
    Blaue Augen bohrten sich in die seinen mit einer Intensität, die ihm kalte Schauer über den Rücken jagten.
    Ein Blitzstrahl, erloschen, bevor er mit dem Verstand bemerkt werden konnte, und doch fühlte Jamal den prüfenden Blick in seinem Inneren, spürte wie er ihn auszog, durchleuchtete, auseinander nahm und wieder zusammensetzte.
    Dann war es vorbei und der blonde Mann saß wieder teilnahmslos in seiner Ecke, der Alkohol das Zentrum seines Interesses.
    Der Barkeeper hielt den Atem an, er konnte nicht sagen warum, aber er fühlte die Mauer, die mit einem Mal vor ihm errichtet worden war.
    Ob Oliver sich vor der Welt oder die Welt vor sich selbst schützen wollte, konnte er allerdings nicht sagen.
    Und doch hatte sich etwas verändert, etwas war anders.
    Oliver blieb an seinem Platz, als wäre er fest gefroren, ruhig, beinahe unbeweglich, das stete Trinken sein einziges Lebenszeichen. Aber er machte keine Anstalten den Abend zu beenden, auf seine übliche Weise aufzubrechen. Nein, er harrte aus, still, unscheinbar, beobachtend.
    Und Jamal wusste, dass er es war, den er beobachtete, dass er es war, auf den er wartete, lange nachdem die anderen Gäste bereits gegangen waren.
    Er tat sein Bestes um den einsamen, blonden Mann in der Ecke zu ignorieren, der Himmel wusste, dass es in diesem Laden genug zu tun gab, das ihn

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