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Diverses - Geschichten

Diverses - Geschichten

Titel: Diverses - Geschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sigrid Lenz
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ablenken sollte.
    Und doch, vielleicht hatte er auf diesen Abend gewartet, vielleicht war der Augenblick gekommen, den er sich seit langem, immer wieder im Geheimen vorgestellt hatte.
     
    Entschlossen richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf den einzig verbliebenen Gast.
    “Ich muss dicht machen”, murmelte er. “Sobald ich aufgeräumt habe, ist Sperrstunde.”
    Der Mann schien ihn nicht gehört zu haben, und Jamal zuckte betont achtlos mit den Schultern und begann die Getränke beiseite zu räumen.
    Ungeöffnete Flaschen bugsierte er vorsichtig in den anschließenden Lagerraum, seufzte zufrieden, als alles fachgerecht verstaut war. “Ich bin fertig”, dachte er, nicht unbedingt erleichtert über seine Feststellung. Denn nun würde er sich dem Mann stellen müssen, würde ihm entgegentreten, seine Anwesenheit ertragen müssen ohne zu wissen, ob er dazu in der Lage sein würde.
    Gedankenverloren tastete er nach der kleinen Waffe, die er stets versteckt am Gürtel trug, normalerweise eine reine Vorsichtsmaßnahme, doch seit Olivers Auftreten zum ersten Mal beinahe zielgerichtet.
     
    Ein Geräusch ließ ihn herumwirbeln.
    Dort stand er, inmitten des Türrahmens, das schwache Licht aus der Bar erleuchtete seine Gestalt von hinten, drang in die Finsternis der Abstellkammer, lediglich hier und dort ein paar graue Strohhalme hervorhebend.
    Jamals Herz pochte erschrocken, seine Hände wurden feucht, sein Mund trocken.
    “Sie... Sie dürfen hier nicht... das ist ausschließlich für’s Personal.”
    Der Mann antwortete nicht, musterte ihn nur prüfend, die eisblauen Augen bis ins Mark durchdringend.
    “Woher kennen Sie mich?”
    Die raue Stimme klang tief, heiser, beinahe angenehm, leise und doch fest.
    “Ich weiß nicht, was Sie meinen.” Jamal richtete sich auf. “Sie kommen öfter hier her.”
    “Ja.”
    Das Schweigen stand zwischen ihnen, zerrte an den ohnehin angespannten Nerven des Barkeepers.
    Oliver blickte auf den Boden, die Risse und Flecken offenbar mit Interesse musternd.
    “Ich denke, dass Sie etwas auf dem Herzen haben.”
    Er sah wieder auf, suchte Jamals schwarze Augen mit seinen. “Ich habe in meiner Vergangenheit viel Schlimmes tun müssen”, fuhr er fort. “Sie wären nicht der Erste, der meint, eine Rechnung mit mir begleichen zu müssen.”
    “Was für eine Rechnung sollte das wohl sein?”
    Jamal räusperte sich, um seinem Worten Nachdruck zu verleihen.
    “Das kommt auf Sie an.” Oliver hielt seinem Blick stand, die unausgesprochene Frage in seinen Zügen enthüllte keine Angst, keine Unsicherheit, kein Schuldgefühl, und Jamal spürte die Wut in sich empor steigen, die er zum ersten Mal bei der Nachricht des Todes seines Bruders in voller Wucht empfunden hatte. Seines Bruders, der ihn trotz allem niemals aufgegeben, der immer für ihn da gewesen, der ihn damals überredet hatte nach Kalifornien zu kommen, ein neues Leben anzufangen.
    Sein Bruder, den dieser Mann auf dem Gewissen hatte.
     
    Jamals Lippen zitterten und das leise, beinahe unmerkliche Beben der Nasenflügel des Fremden zeigten ihm, dass auch dieser seinen Stimmungswandel bemerkt hatte.
    Die leicht angehobenen Augenbrauen bewiesen seine instinktive Wachsamkeit, den automatisch einsetzenden Schutzmechanismus, der jeden Angriff von seiner Seite aus von vornherein zum Scheitern verurteilen würde.
    Jamals Finger tasteten sich wie von selbst in Richtung seiner Hüften, die Waffe brannte sich in seinen Oberschenkel.
    “Sie würden die Rechnung demnach begleichen”, stellte er herausfordernd fest, in den blassen Gesichtszügen vergeblich nach der Aggressivität suchend, die er erwartete, jeden Moment hervorbrechen zu sehen.
    “Ich bezahle immer.” Die dunkle Stimme klang tonlos. “Nennen Sie mir nur den Preis!”
     
    “Der Preis beträgt ein Leben.” Jamal spürte wie seine Kehle austrocknete. War er wirklich dazu imstande?
    “Ein Leben für ein Leben.”
    Oliver nickte. “Ich verstehe... ich verstehe Sie.”
    Jamal zuckte zusammen, als der ältere Mann eine Hand emporhob, jedoch nur um sich durch das blonde Haar zu streichen. Beinahe lächelte er, als sich ihre Blicke von Neuem trafen.
    “Das wäre dann Gerechtigkeit?”
    Jamal nickte und zog die Waffe.
    “Gerechtigkeit vor Gott und vor mir.”
    Er richtete sie auf Oliver, beinahe erstaunt über die Ruhe und Gleichgültigkeit, die ihn mit einem Mal erfasst hatte. Seine Hand zitterte nicht, sein Atem ging klar und regelmäßig.
    Er starrte die schmale

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