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Diverses - Geschichten

Diverses - Geschichten

Titel: Diverses - Geschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sigrid Lenz
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Erscheinung im Türrahmen an, die sich keinen Zentimeter bewegt hatte.
    “Sie haben keine Angst zu sterben?”
    Langsam schüttelte Oliver den Kopf.
    “Seit langem nicht mehr.”
    “Und Sie haben nicht vor zu kämpfen?”
    Diesmal lag seine Verneinung in den Augen.
    “Wofür sollte ich?”
    Jamal senkte seine Hand, nur ein wenig, nur einen Zentimeter, und wurde doch gewahr, wie Olivers Körper sich anspannte.
    “Sie sollten schießen, Jamal”, sagte Oliver. “Tun Sie es, wenn Sie denken, dass es ihres Bruders Wille gewesen wäre.”
    Tränen schossen in Jamals Augen.
    “Denken Sie, dass er es gewollt hätte?”
    Oliver senkte den Kopf.
    “Ich weiß es nicht. Keiner von uns wird das jemals wissen.”
    Er holte tief Luft.
    “Aber ich weiß, dass ich es gewollt hätte... dass ich an Ihrer Stelle abdrücken würde, schon längst abgedrückt hätte...”
    Er schwieg. Die Stille gefror.
    “Zumindest war ich einmal so... vor langer Zeit...”
    Die Augenlider des Mannes flackerten für einen Moment. Dann drehte er sich um und ging.
    Die Tür schloss sich leise hinter ihm und Jamal stand immer noch bewegungslos, die Waffe fest in der Hand.
    Er würde ihn nicht töten, hätte es nie tun können. Er war nicht so wie er, nicht so wie sein Bruder, nicht so wie dieser Mann gewesen war, er war anders.

Von Leben und Schmerz
    Allein
     
    "Wirst du ihn heute anrufen?"
    "Ich glaube nicht! An den Feiertagen ist das Risiko einfach zu groß."
    Tanja nickte und stellte die benutzten Teller auf ein Tablett, während Lars gedankenverloren begann, Feuer im Kamin zu entfachen.
    Sie seufzte. "Ich mach uns noch einen Tee, ist das in Ordnung?"
    Lars nickte dankbar.
    Erschöpft sank er auf die Couch und starrte in die flackernden Kerzen. Er ließ sich von ihren unruhigen Bewegungen hypnotisieren und versuchte sich vorzustellen, wie Connor diesen Abend verbringen mochte, ob allein, anonym in einer abgelegen Bar oder einsam im Zimmer einer schäbigen Herberge, ähnlich der, in der er ihn vor ein paar Wochen aufgespürt hatte, versteckt, gejagt, auf der Flucht wie ein wildes Tier. Er konnte ihn vor sich sehen, den Kopf in den Armen vergraben, die Flasche Whiskey auf dem niedrigen Tisch vor sich als einen letzten Trost, ein Laster, das sie wiederholt vereint hatte, bis Connor dann etwas anderes für sich entdeckt hatte.
     
    Lars massierte unbewusst den schmerzenden Muskel in seinem Nacken. Sein Blick fiel auf die elegante kleine Tanne, die Tanja und er liebevoll gemeinsam geschmückt hatten und in deren Zweigen silberglänzende Kugeln funkelten. Die Lichter strahlten mit ihren Spiegelbildern in den glitzernden Metallengeln um die Wette, blitzten manchmal hinter einer Wehe feinen Kunstschnees hervor, während andere sich selbstbewusst in den Vordergrund drängten, stolz ihren goldenen Schein in dem nach Tannengrün und weihnachtlichen Gewürzen und einem bereits verzehrten Festmahl duftenden Raum verbreitend.
    Das Feuer knisterte leise, und Lars wusste, dass er eigentlich glücklich sein müsste. Und dennoch blieb dieses bohrende, nagende Gefühl in seinem Herzen, ein beißender Schmerz, der an seinen Eingeweiden schabte, ein Schmerz, der nicht vergehen wollte, unabhängig davon, wie lange der Tag, an dem Connor gestorben war, bereits zurücklag, die wahrscheinlich einzige und letzte Chance für den Freund die Last der Vergangenheit abzuschütteln, eine neue Existenz zu beginnen.
    Und doch fühlte Lars instinktiv, dass Connor noch nicht soweit war, es vielleicht niemals sein würde. Zu tief in ihm vergraben war die Trauer, zu grausam waren die Verluste, die er hatte ertragen müssen. Lars seufzte und fuhr sich durch die schwarzen Locken. Er kannte ihn mittlerweile besser als sich selbst, hatte es an seiner Stimme hören können, blechern und verzerrt durch die Fernleitung und doch unverwechselbar in ihrem tiefen Klang, an der Stimme, die es noch nie vermocht hatte seine Gefühle zu verbergen, zumindest nicht vor ihm.
     
    Lars zog die Knie an, umschlang sie mit seinen Armen und stützte das Kinn darauf.
    Connor würde alleine sein in dieser Nacht. Er konnte ihn vor sich sehen, konnte die Arme nach der schmalen Gestalt ausstrecken, die aus schimmernden Augen, weit aufgerissen in ihrer Hoffnungslosigkeit, auf den kupfernen Inhalt der Flasche starrte, der ihr nicht das geben konnte, was sie brauchte. Lars sah, wie sie sich verzweifelt danach sehnte, ein stärkeres Gift in den Händen zu halten, das ihr erlaubte, dem Schmerz zu entfliehen. Er

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