DJ Westradio
Volkslieder, Arbeiterkampflieder und Pionierlieder. Zu Hause hörten wir meistens Westradio. Je nach UKW-Empfang Bayern 3, NDR 2 oder RIAS Berlin. Das Kofferradio stand in der Küche und lief quasi den ganzen Tag. Nur zu den Nachrichten stellten meine Eltern den Deutschlandfunk auf Mittelwelle ein. Der Sound war dann ungefähr so, als wenn man Radio über ein altes Telefon hören würde.
In den 70ern saugte ich als Kind alle mögliche Musik aus den Boxen. In Erinnerung sind mir besonders ABBA, die Bee Gees, Marianne Rosenberg und Roland Kaiser. Wenn der Empfang für Westsender zu schlecht war, stellten wir notgedrungen DDR-Radio ein, und so habe ich auch noch einige Ostschlager von Frank Schöbel im Gedächtnis. Um 1980 bohrte sich dann vermehrt englische Popmusik von Blondie und Kim Wilde in mein Ohr. Ein Song hat Anfang der 80er nachhaltig meinen Musikgeschmack geprägt: »Hey Little Girl« von Icehouse. Doch bevor ich mich in den Folgejahren ausgiebig mit ähnlich melancholischer Popmusik beschäftigen sollte, schwappte etwas ganz anderes in mein elfjähriges Leben: die Neue Deutsche Welle. DieseMusik machte über Nacht aus Kindern Teenager und aus schüchternen Kids wild tanzende Partygänger. Die älteren Teens an unserer Schule fuhren besonders darauf ab, und wir hatten endlich etwas, um den Anschluß an »die Größeren« herzustellen. Die deutschsprachigen schlagerhaften Songs der Neuen Deutschen Welle sprachen einem aus der kindlichen Seele und ließen sich vor allem gut mitsingen: »Ich will Spaß!« Den wollten wir auch. In den nächsten Jahren lief dieser Song von Markus immer wieder bei Schuldiscos, wenn die aufsichtführende Lehrerin mal nicht im Raum war. Besonders Mutige grölten dann laut die Textzeile mit: »Deutschland, Deutschland hörst du mich – heut’ nacht komm ich über dich«. Das war deshalb etwas gewagt, weil das Wort »Deutschland« im offiziellen Sprachgebrauch der DDR nicht mehr verwendet wurde. Es gab die BRD und die DDR. Deutschland gab es nicht.
Diese für uns Kids damals unheimlich frische NDW-Musik löste in unseren Köpfen die bunt durcheinandergewürfelten West- und Ostschlager der 70er ab und versetzte gleichzeitig Anfang der 80er der DDR-Rockmusik den Todesstoß. In den 70er Jahren sollen Bands wie City, die Puhdys oder Karat in der DDR unter Jugendlichen ja richtig beliebt gewesen sein, aber das konnten wir überhaupt nicht mehr nachvollziehen. Alles, was man heute unter dem Sammelbegriff »Ostrock« zusammenfaßt, war für uns das absolut Uncoolste, was es überhaupt gab. Meine Eltern fanden damals noch Veronika Fischer und einige Songs von Karat toll, aber unsere Generation lehnte das aus Prinzip ab. Warum? Die Musik hielt einfach nicht dem stand, was manaus dem Westradio kannte. Das hörte man schon am Sound der Synthesizer. Außerdem waren die nicht so schick angezogen wie die westlichen Musiker. Die Ostbands waren uns zu brav, ihre Mitglieder konnten keine Vorbilder für uns sein.
Im April 1983 startete im Fernsehprogramm des Bayerischen Rundfunks die wöchentliche Musiksendung »Formel Eins«. Durch Zufall sah ich die erste Sendung und war begeistert. Von nun an hockte ich jeden Montagabend vor unserem winzigen Schwarzweißfernseher und schaute mir die neuesten Musikvideos an. In besonderer Erinnerung ist mir noch das Michael-Jackson-Video zu »Thriller«. Als die Szene kam, wo sich Michael zu einem Zombie verwandelt (ein Vorgeschmack auf sein heutiges Aussehen), habe ich mich wirklich furchtbar erschreckt. Das sofortige Umschalten auf einen DDR-Fernsehsender, wo zur gleichen Zeit eine DDR-Rock-Sendung lief, brachte jedoch keine geistige Entspannung, denn die Musik dort war genauso zum Gruseln.
1985 kam »Beat Street« in die DDR-Kinos, ein Spielfilm aus den USA über eine Hiphop-Clique aus der Bronx mit jeder Menge Musik, die ich bis dahin nicht kannte. Das war der erste Film, den ich mir im Kino ansah, wo es nicht um Piraten oder ähnliches ging. »Beat Street« löste unter DDR-Jugendlichen große Begeisterung aus. Sicherlich hatten die Funktionäre den Film in die DDR-Kinos geholt, um uns zu zeigen, wie arm Jugendliche in den USA dran sind. Der im Film gezeigte New Yorker Stadtteil mit den verfallenen Häusern und dem Frust unter jungen Leuten erinnerte aber irgendwie an die DDR. Breakdance wurde so für viele jungeZonis mehr als nur ein westlicher Modetrend. Er wurde zu einer Jugendkultur, zu einem Identifikationspunkt fernab der staatlich organisierten
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