DJ Westradio
Gruppenleiter sprach zwei Stunden lang kein einziges Wort und gewann eine Flasche Sekt). Den guten russischen Sekt tranken wir dann zusammen – was für ein Highlight, denn es war das erste Gläschen Alkohol in unserem Leben.
Das überhaupt allerwichtigste waren die Discos, die alle paar Tage abends stattfanden. Unsere Betreuer waren nämlich nicht nur unsere Aufpasser, sondern auch Kassetten-DJs. Natürlich spielten sie keinen Ostrock, das wäre der Todestoß für uns kleine Tanzmäuschen gewesen. Wir tanzten zu den aktuellen Charthits, via Westradio auf Tapes aufgenommen. Die einschlägigen Radiosendungen waren bekannt, die bayerische Grenze nicht weit und darum der Empfang gut. So war immer neuester Song-Nachschub gewährleistet. Die Discos waren natürlich auch deshalb so wichtig, weil man die vorsichtigen Annäherungsversuche der letzten Wanderungen auf der Tanzfläche intensivieren konnte. Nun mußte man nur noch die eigene Schüchternheit überwinden und seine Auserwählte zum Tanzen auffordern. Bei einer Abfuhr hieß es, sich spontan in eine andere zu verlieben. Die letzten Details wurden dann bei der »langsamen Runde« gegen Ende der Disco geklärt. Da liefen dann solche Nummern wie »The Power of Love« von Frankie Goes To Hollywood oder »True Colours« von Cindy Lauper. Lehnte sie einen langsamen Tanz nicht ab und kuschelte sich auch ein wenig an einen ran, war alles klar. Die Endorphine schossen einem durch den Körper, so daß man später noch stundenlang imDoppelstockbett wach lag und mit den Kumpels über die Mädels sprach. Zuvor hatte man sich noch vor den Toiletten zum Gutenachtküßchen getroffen – wie romantisch. Dieses neue Gefühl von Verliebtheit war irgendwie viel cooler als Fußballspielen oder im Wald Buden bauen. Händchenhaltend wurden dann die nächsten Ausflüge zu einem unvergeßlichen Erlebnis. Nun mußte man nur noch seine Reifeprüfung bei den sagenumwobenen Zungenküssen bestehen.
Im Sommer 1985 war es mit den Mädels etwas kompliziert. Mein Ferienlagerkumpel Matthias, mit dem ich drei Jahre später zusammen in die Lehre gehen sollte, interessierte sich wie ich für die von uns intern gekürte »Ferienlagerschönste«. Sie hieß Silvia und sah wirklich toll aus. Sie hätte mühelos in jede BRAVO-Foto-Love-Story gepaßt. Ganz auf der Höhe der damaligen Zeit trug sie konsequent nur Klamotten in Pastelltönen, in Hellblau und Zartrosa. Matthias war mein Kumpel, aber wenn ich Silvia sah, wurden Emotionen in mir geweckt, die ich bis dato nur ansatzweise kannte. Ich mußte ihnen nachgeben, denn ich fühlte mich in ihrer Nähe wundervoll. Anstandshalber wartete ich einige Tage mit meinen Annäherungsversuchen, bis Matthias merkte, daß er wohl nicht so gut bei Silvia ankam. Das war für ihn kein Problem, es gab ja noch andere schöne Mädels. Aber nun konnte ich zur Offensive übergehen. »Schäkern« nannte man das. Alles lief nach Plan, und nach der nächsten Disco waren wir ein Paar. Damals war das verblüffend einfach. Wenn ich da an die Verrenkungen denke, die ich Jahre später unternahm …
Am Ende des Ferienlagers hielten wir einen Nachmittag lang offenes Gericht über unsere Erzieher. Es gabRichter, Staatsanwalt und Verteidiger, alle Rollen wurden von uns Kindern gespielt. Der Rest der Kids saß im Publikum, und wir zitierten die einzelnen Erwachsenen auf die Anklagebank. Von Rechtsstaatlichkeit konnte hierbei aber nur bedingt gesprochen werden, weil es für die Beschuldigten keine Berufungsmöglichkeit gab. Wen wundert’s, denn die DDR war ja auch kein echter Rechtsstaat, nicht mal ein echter Linksstaat. Die Erzieher ließen alles tapfer über sich ergehen. Man machte sich in der Anklage meistens über verschiedene Ticks der Erwachsenen lustig. Da wurde schon mal jemand zum ausgiebigen Streuselkuchenessen verurteilt, weil es in der ganzen Zeit immer nur Streuselkuchen zum Vesper gab.
Wieder zu Hause angekommen, verebbten die Kontakte leider recht schnell, obwohl man in der gleichen Stadt wohnte. Es gelang irgendwie nicht, diese verschworene Gemeinschaft aus dem Ferienlager im normalen Großstadtleben aufrechtzuerhalten. Mit der Ferienlagerliebe war das ebenso. Immerhin kam man noch zu einigen wunderschönen Liebesbriefen mit gemalten Herzchen.
Als ich diesmal wieder nach Leipzig zurückkehrte, merkte ich, daß meine Kindheit nun irgendwie endgültig vorbei war. Das hatte nicht nur was mit Silvias Küssen zu tun. Ende des Sommers kam ich in die 8. Klasse. Da ging es in
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