DJ Westradio
Jugendarbeit. Die DDR war auch eine riesige Bronx. Breakdance konnte jeder lernen, der es wollte. Es war damals ein Tanz der Straße für die Straße. Dazu brauchtest du keine FDJ, nur dich selbst. Also einfach rausgehen und nachmachen.
»Formel Eins« war eingebunden in das wöchentliche Jugendprogramm vom Bayerischen Fernsehen, welches »Live aus dem Alabama« hieß. Parallel zum »Beatstreet«-Film im Osten gab es auch im Westen eine Hiphop- und Breakdance-Welle. Ein Typ mit dem unvergeßlichen Namen Eisi Gulp zeigte bei »Live aus dem Alabama« wöchentlich einige Breakdance-Grundbewegungen zum Nachmachen vorm Fernseher. Später zog seine Sendung sogar ins ZDF um. Für Außenstehende wirkte die Sache vielleicht ein wenig wie Fernsehgymnastik, aber mein Klassenkamerad Nauni und ich waren begeistert. Wir räumten in unserem Wohnzimmer die Möbel zur Seite und versuchten nachzumachen, was Eisi uns zeigte.
Unsere wichtigsten Breakdance-Accessoires waren Turnschuhe und weiße Handschuhe. Ersteres hatten wir, aber woher im Osten die weißen Handschuhe bekommen? Der DDR-Bürger weiß sich zu helfen. In den Apotheken gab es für Leute mit Hautekzemen sogenannte Bouclé-Handschuhe, die weiß waren und schön eng anlagen. Die Mütter wurden losgeschickt, welche zu kaufen. Für die besseren Breakdance-Gruppen in Leipzig waren wir jedoch zu jung und zu schlecht. Wenigstens blieben uns die Schuldiscos, wo Nauni und ich ein bißchen mit Breakdance angeben konnten.
Die Neue Deutsche Welle hatte uns Popmusik nahe gebracht, Breakdance und Hiphop die erste Jugendsubkultur. Aber es war vor allem das Jahr 1984, das die entscheidenden Weichen für meinen Musikgeschmack stellte. Samstag vormittags lief auf NDR Radio Niedersachsen eine Hitparade, eine andere abends auf NDR 2. Die dort gespielte Musik wurde zunehmend zum Gesprächsstoff in unserer Schulklasse. Besonders Mitschüler mit älteren Geschwistern brachten aktuelle Chart-Hits ins Gespräch. Ich borgte mir den Mono-Kassettenrekorder meiner Eltern und lief in meinem Zimmer so lange mit dem Gerät rum, bis ich eine Stelle gefunden hatte, wo der UKW-Empfang des Senders einigermaßen rauschfrei war. Eine Flut englischer Popmusik sprudelte nun aus dem Radio in mein Zimmer und auf meine ersten eigenen Kassetten. Von Nik Kershaw, Duran Duran, Bronski Beat, Eurythmics und Frankie Goes To Hollywood – die Liste ließe sich ins Endlose weiterführen. Durch die »Formel Eins«-Sendungen bekamen wir außerdem eine Visualisierung der Musik, die wir nun täglich hörten. Musik wurde mein neuer Lebensinhalt und löste zunehmend Playmobil ab. Mein Teenagerdasein entwickelte sich planmäßig.
Doch all diese uns begeisternden Hitparaden-Popsongs bekamen Anfang 1985 eine Konkurrenz des schlechten Geschmacks, die sich seuchenartig in den Köpfen zahlloser ost- und westdeutscher Teenies einnistete und selbst vor guten Freunden nicht haltmachte: Modern Talking. Es war nicht zu fassen. Eben noch schwärmte die halbe Klasse für die schnuckeligen Boys von Duran Duran oder war in Limahl, George Michael und Boy George verliebt, und dann das. Meindamaliges unangefochtenes Lieblingslied war »Shout« von Tears for Fears, Platz eins in der westdeutschen Hitparade. Doch mit der Edelschnulze »You’re My Heart, You’re My Soul« fraß sich ein Bad-Taste-Monster an die Spitze der Charts, und ich begann es zu hassen. Merkte denn keiner, daß diese »Band« absolut grottenschlecht war? Das war doch fast schlimmer als Ostrock. Hattet Ihr denn alle keinen Funken Selbstachtung im Leib? Ich hoffte inständig, daß es sich bei Modern Talking wenigstens um eine Eintagsfliege handeln würde. In Anbetracht der schlechten Songs gab es da durchaus Hoffnung. Aber auch die nächsten Singles dieser beiden Typen stürmten die Charts, und ich verstand die Welt nicht mehr. Warum kauften im Westen freiwillig so viele Leute die Musik von Thomas und Dieter? Die hatten doch eine riesige Auswahl an superguten Platten in den Geschäften. Warum immer wieder Modern Talking? Der Alptraum ging weiter. Selbst im DDR-Radio lief einige Zeit später »Cherry, Cherry Lady«. Die Mauer, die uns vor den schädlichen Einflüssen des Westens beschützen sollte, hatte schon damals total versagt.
Ferienlager
Das Ferienlager bildet für viele Ex-DDR-Kinder mit Recht eine der schönsten Erinnerungen an ihre Kindheit beziehungsweise Jugend. Neben Ferienlagern, welche die Pionierorganisation »Ernst Thälmann« in riesigen Anlagen mit
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