DJ Westradio
Hunderten Kindern direkt organisierte, gab es auch zahlreiche größere und kleinere Betriebsferienlager, wo die Kinder der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus den jeweiligen Betrieben hinfuhren.
In Leipzig waren Oper, Schauspielhaus und die Theaterwerkstätten zu den »Leipziger Theatern« zusammengefaßt und hatten ebenfalls ein eigenes Ferienlager. Meine Eltern organisierten mir dort einen Platz. Kostenpunkt für 14 Tage: 20 Mark inklusive Vollverpflegung. Für mich hatten Ferienlagerbesuche auch deshalb so etwas typisch DDR-haftes, weil ich meine Westsüßigkeiten wegen des möglichen Sozialneides zu Hause ließ und mich mit den anderen Kindern 14 Tage von Zetti-Knusperflocken, Vita-Cola und Othello-Keksen ernährte. All diese Sachen waren zwar nicht so süß und bunt verpackt wie meine Westprodukte, gehörten aber einfach zum Ferienlager dazu und waren darum Kult.
Ferienlager bedeutete 14 Tage schönes Wetter auf dem Lande fernab der verpesteten Großstadtluft, 14 Tage Spaß mit netten Leuten, die man gerade erst kennengelernt hatte, 14 Tage mit den Mädels rumflirten undmit ein bißchen Glück auch rumknutschen. Wandern, baden, Tischtennis, Discos. 14 Tage ohne Eltern. Selbst die Jungs aus der kleinen Gruppe der Zehn- bis Elfjährigen schrieben lediglich Postkarten mit Texten wie diesen: »Liebe Oma! Mir geht es gut. Schick mir noch zehn Mark. Tschüs, Dein Kay.«
Das Ferienlager der Leipziger Theater war der alte »Gasthof zur Linde« in Weißbach im Erzgebirge nahe Karl-Marx-Stadt (heute Chemnitz). Die Kneipe hatte während unseres Aufenthaltes für den Rest des Dorfes geschlossen und kochte nur für uns. Zu trinken gab es pausenlos einen undefinierbaren Kräutertee, dessen Geschmack noch heute Zehntausende ehemalige Ferienlagerkinder in der ganzen DDR in Erinnerung haben müßten.
Im ersten Stock befand sich früher der Tanzsaal, den man noch am Parkett und an den Resten der Orchestermuschel erkannte. Hier waren in typischer DDR-Manier Holzwände eingezogen worden, um sechs Gruppenzimmer zu erhalten, natürlich mit Doppelstockbetten. Die Zwischenwände bestanden aus dünnen Preßspanplatten, in die man leicht kleine Löcher reinbohren konnte, um abends Liebesbriefe auszutauschen. Etwa 60 Kinder zwischen neun und 13 Jahren fuhren mit, drei Mädchen- und drei Jungsgruppen. Die Gruppenleiter waren immer Angestellte der Leipziger Theater, beispielsweise Kulissenschieber, Souffleusen oder Kostümschneiderinnen. In dem Raum, von dem alle Zimmer abgingen, standen zwei Tischtennisplatten, die in den ersten Tagen immer unglaublich kommunikationsfördernd waren, besonders wenn man zu zwanzigst »chinesisch« spielte.
Auch Betriebsferienlager waren Pionierferienlager, weil ja mehr oder weniger alle DDR-Kinder Pioniere waren. Klar, daß man da sein Pionierhalstuch mitbringen sollte, für irgendwelche Appelle, wobei ich mich nicht genau erinnern kann, ob wir überhaupt welche abgehalten haben. Dafür wurden die Halstücher am letzten Tag verbotenerweise in einem Anfall von Melancholie und Abschiedsstimmung mit Unterschriften verziert und ausnahmsweise sogar freiwillig getragen, um wenigstens die Autogramme der vielen liebgewordenen Freunde ganz nah bei sich zu haben.
Gerne erinnere ich mich an den Sommer 1985, als ich als 13jähriger schon in der großen Gruppe war. Wir trafen uns früh in Leipzig auf dem Hauptbahnhof und standen zunächst mit unseren Eltern noch etwas verloren rum. Immerhin hatte man so Zeit, die Mädels abzuchecken und nach netten Typen Ausschau zu halten, an die man sich dann hängen konnte. Spätestens im Zug war man befreundet und diskutierte, wer in den Doppelstockbetten oben schlafen dürfe, wer also zur Kategorie Alpha-Männchen gehörte. Ich freundete mich sogleich mit Matthias an, der wie ich auf die Bands Tears for Fears und Depeche Mode stand.
Die ersten Tage machten wir noch Frühsport, weil das zu einem Ferienlager dazugehörte. Als der Erholungseffekt in der malerischen Natur des Erzgebirges einsetzte, hatten unsere beiden Gruppenbetreuer – zwei junge Bühnenhandwerker aus der Oper – dann keine Lust mehr, so zeitig aufzustehen. Sie gingen mit uns nach dem Frühstück wandern oder in die nahe gelegenen Freibäder. Überhaupt waren wir wahnsinnig viel zu Fuß unterwegs. Das hatte den Vorteil, daß, wenn wirmit der gleichaltrigen Mädchengruppe unterwegs waren, natürlich auch entsprechende Kontakte geknüpft werden konnten. Einmal verlor die Mädchengruppe eine Wette (unser
Weitere Kostenlose Bücher