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DJ Westradio

DJ Westradio

Titel: DJ Westradio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Lange
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Biologie um Aufklärung, und im neuen Bio-Buch waren Fotos von Eizellen und Spermien abgebildet. Ich säuberte mein Kinderzimmer von den Resten meiner Kindheit.
    Meine Eltern hatten die Zeit ohne mich optimal ausgenutzt und waren nach Budapest geflogen, eine osteuropäischeGroßstadt, in der alles schon ziemlich westlich zuging. Sie brachten mir ein Wahnsinnsgeschenk mit, das mich in einen exklusiven Kreis aufsteigen ließ: ein Autogramm von Martin Gore, dem Keyboarder und Songschreiber von Depeche Mode, meiner Lieblingsband. Depeche Mode gaben ihr erstes Konzert in Ungarn, und Martin Gore saß zufällig im selben Straßencafé wie meine Eltern. Ein Originalautogramm von Martin! Ich hatte jetzt eine Mission, das Schicksal hatte es so entschieden. Diese Mission hieß Depeche Mode. Meine Kindheit war in der Tat endgültig vorbei. Was jetzt kam, konnte nur noch aufregender werden.

BRAVO-Poster
    BRAVO-Magazine waren, wie so ziemlich alle Kinder-, Jugend- und Erwachsenenzeitschriften aus der BRD, für die DDR-Offiziellen »imperialistische Schund- und Schmutz-Literatur« und damit verboten. Besonders an der Grenze beziehungsweise bei der Post versuchte man die Einfuhr solcher westlichen Zeitschriften zu verhindern. Dennoch gab es sie in der DDR zuhauf. BRAVO-Poster wurden an Schulen zu Höchstpreisen gehandelt. Es gab regelrecht feste Preisgruppen: Eine Poster-Doppelseite 20 Ostmark, eine einfache Seite zehn Mark. Die A2-Poster bis zu 40 Mark und eine ganze BRAVO um die 100 Mark. Dazu muß man wissen, daß eine BRAVO im Westen damals 1,80 DM kostete und ein Lehrling im Osten 120 Mark pro Monat bekam, ein Schüler verfügte über maximal 20 Mark Taschengeld im Monat. Das Geld für die Poster war trotzdem immer da.
    Die BRAVOs brachte meist Besuch von drüben mit. Doch da die eifrigen Beamten an den Grenzübergangsstellen oftmals das Gepäck filzten, hieß es, erfinderisch sein. Meine Mutter beispielsweise durfte einmal im Jahr zum Geburtstag meiner Großmutter in den Westen fahren. Auf der Zugrückfahrt ging sie kurz vor der Grenze aufs Klo und versteckte in ihren hohen Schaftstiefeln je eine BRAVO und ein Popcorn-Magazin. Eine weitere BRAVO verschwand unterm Pullover und wurde um den Bauch gelegt. Letztere war dann immer vom Angstschweiß bei der Paßkontrolle etwaswellig, was jedoch der ideellen Bedeutung des Heftes keinerlei Abbruch tat.
    Da die in die DDR eingeschmuggelten BRAVOs bei weitem nicht die Nachfrage deckten, entwickelte sich ein neuer Handwerkszweig unter Schülern und Lehrlingen: das Abfotografieren von BRAVO-Seiten. Hierbei gab es wieder feste Preise: ein Foto in Ausweisgröße brachte eine Mark, A5 bis zu fünf Mark. Die ganze Sache nahm solche Ausmaße an, daß auf der Leipziger Kleinmesse diese Fotos als Preise an den Schießbuden angeboten wurden. Ich selbst hatte mir mal ein A7-Foto von Kim Wilde geschossen. Da ich ein schlechter Schütze war, verballerte ich Munition für fünf Mark.
    Mit meinen BRAVO-Postern hatte ich andere Pläne, als in den Verkauf einzusteigen: Ich tauschte sie gegen Poster meiner Lieblingsband Depeche Mode. Da ich wie alle anderen Zonis nicht die Möglichkeit hatte, jede Woche eine BRAVO zu bekommen, sondern nur von Zeit zu Zeit, mußten alle Kontakte in der Schule und im Bekanntenkreis beansprucht werden, um die fehlenden Poster zu organisieren. Ich war ein Depeche-Mode-Poster-Maniac, und das lief etwa so ab: Irgend jemand in der Schule kannte jemanden, der ein Poster besaß, das ich noch nicht hatte. Schnell war der Kontakt hergestellt. »Was sammelst du? Duran Duran? The Cure? Rick Astley? Ich biete dir das und das Poster.« Was für ein Geschacher und welche Freude! Das war fast Nachkriegs-Schwarzmarktatmosphäre, und wieder würde ein fehlendes Stück das Puzzle meiner Sammlung ergänzen. Daß man die Musik vielleicht auch hätte sammeln können, war damals noch nicht so wichtig. Poster! Poster! Poster! Mein Zimmer maß 20 Quadratmeter bei 3,50Meter hohen Wänden. Da war Platz. Erst wurde eine Wand behängt, dann die zweite, dann der Platz zwischen den Fenstern. Innerhalb von zwei Jahren schmückten 80 Poster von Depeche Mode meine Wände. 80 Poster aus BRAVO-, Popcorn- und Pop-Rocky-Magazinen – kein abfotografierter Scheiß! Ich schwöre! Ich war der Depeche-Mode-Poster-King der Südvorstadt, vielleicht sogar von ganz Leipzig. Niemand im Kiez zweifelte daran, daß ich ein echter Depeche-Mode-Fan war. Ich war einer, schließlich hatte ich das Unmögliche möglich

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