DJ Westradio
illegale Demo! Mann, waren wir aufgeregt! Unsere schwarzen Klamotten hatten wir zu Hause gelassen und uns ganz unauffällig angezogen.
Ins Stadtzentrum kamen wir ungestört mit der Straßenbahn. Der Platz vor der Nikolaikirche war bereits voller Menschen. Insgesamt 10 000 Demonstranten wurden später gezählt. Wir standen dicht gedrängt vor der Kirche. Nach 18 Uhr gingen die Türen auf, und die Teilnehmer des Friedensgebetes strömten heraus. Wir liefen mit ihnen Richtung Karl-Marx-Platz. Dann die ersten Sprechchöre. »Gorbi, Gorbi« und »Wir sind das Volk!« Zwischen den Häusern schallte es ungemein. Es hatte so etwas Befreiendes, dieses laute Rufen in Sprechchören. Es war ja nicht erlaubt, sich anders, als der Staat es wollte, öffentlich zu artikulieren, aber hier war jeder durch die Menschenmasse anonymisiert, und so konnte man schön seinen Frust rausschreien. Wir waren außerdem völlig überwältigt von der geordneten Unorganisiertheit der Menschen. Der Demonstrationszug lief auf dem Ring zum Bahnhof. Eine erste Straßenbahn mußte wegen der Menge anhalten. Alle freuten sich über das, was mit so vielen Menschen möglich war. Gegenüber der Oper stand heute keine Bonzen-Tribüne. Am Bahnhof sah man Polizeiketten. Sie sicherten aber nur den Eingangsbereich und behinderten uns nicht. Wir liefen an ihnen vorbei auf dem Ring, nicht auf dem Fußweg, sondern mitten auf der Straße. Menschen, so weit man schauen konnte. Am »Blauen Wunder«, einer Fußgängerbrücke über den Ring unweit des Stasi-Gebäudes, kam der Zug zum Stehen. Polizeiabsperrungen. Nun hatten sich auch an den Seiten Polizeiketten gebildet. Offenbar wollten sie verhindern, daß wir am Stasi-Gebäude vorbei wieder in die Innenstadt liefen. Nobi, Triebi, Rüdi und ich befürchteten einen Polizeikessel und verdrückten uns schnell durchdie menschenleere Innenstadt nach Hause. Trotzdem – was für eine coole Demo. Wir waren begeistert.
Später am Abend kam meine Mutter nach Hause. Sie erzählte, wie sie mit anderen Demonstranten an der Thomaskirche von Polizisten gejagt worden sei. Die hätten jetzt auch solche weißen Helme, Schilder und Knüppel, wie wir sie bislang nur von den Westpolizisten bei Demos aus dem Fernsehen kannten. Während sie berichtete, packte sie ihre Handtasche aus und legte ihre Notrationen für den Fall einer Verhaftung auf den Tisch: ein Päckchen Zwieback und eine Schachtel Zigaretten. Uns war klar: Am nächsten Montag wird wieder demonstriert.
Am Samstag, dem 7. Oktober, zum 40. Jahrestag der DDR, gab es nicht nur in Ostberlin, sondern auch in Leipzig Spontan-Demos. Thümi erzählte, daß er und Nobi unbedingt hingehen wollten, genauso wie einige andere vom Steinplatz. Ich begleitete sie nicht, denn ich hatte wenige Tage zuvor bei einem Punkkonzert ein nettes Mädchen kennengelernt. Sie hieß Droge. Das war natürlich nicht ihr richtiger Name, sondern nur ihr Spitzname. Sie nahm überhaupt keine Drogen, außer den üblichen Mixgetränken und Bier, aber sie nannte sich eben Droge, und darum nannte ich sie auch Droge. Doch Droge entwickelte sich langsam für mich zur Droge, und am 7. Oktober war ich darum weder feiern noch protestieren, sondern wir zwei besuchten eine Popper-Disco im Leipziger Betonneubaugebiet Grünau. Es schien klar, daß an diesem Tag die Bullen nicht zimperlich sein würden, und ich wollte mir nicht die Fresse polieren lassen. Wie sehr ich damit leider recht hatte, erfuhr ich am nächsten Tag. Auf der Flucht vor knüppelschwingendenVolkspolizisten wurde Thümi von einem Stasi-Typen auf dem Gelände der Uni verkloppt. Nobi war mit dem Schrecken davongekommen.
Die Stimmung war nach den letzten Ereignissen auf das äußerste angespannt. Die Demos und die Ausreisewellen waren die Themen in der Stadt, quer durch alle Altersgruppen. Dazu kam noch der Gründungsaufruf des Neuen Forums. Als ich dieser Tage mit der Straßenbahn zum Dienst in die Oper fuhr, las eine Frau in der Bahn das entsprechende Flugblatt, ohne sich die Mühe zu machen, es zu verbergen. Das Selbstbewußtsein der Menschen stieg. Vor der nächsten Montagsdemo am 9. Oktober in Leipzig kamen noch die Gerüchte hinzu, daß die Krankenhäuser sich auf viele Verletzte vorbereiteten, daß das ganze medizinische Personal in Bereitschaft sei und sogar die paramilitärischen »Kampfgruppen« aus den Betrieben gegen die Demo eingesetzt werden sollten. Allen war klar: Am 9. Oktober fällt hier auf dem Ring eine Entscheidung. Viele dachten an die
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