DJ Westradio
sollten. Erscheinen war mehr oder weniger Pflicht, beziehungsweise unentschuldigtes Fehlen machte gar keinen guten Eindruck. Dann hielt man die vorher bei der Arbeit oder in der Schule hergestellten und genehmigten (!) Transparente in die Höhe und marschierte, von Süden kommend, auf dem Ring in Richtung Hauptbahnhof. Gegenüber der Oper war eine Tribüne aufgebaut, auf der die Leipziger Repräsentanten der SED und der anderen Massenorganisationen der DDR mild lächelnd den Jubel der vorbeiziehenden Bevölkerung entgegennahmen. Entlang der Demoroute standen Lautsprecher, aus denen Marschmusik ertönte, und eine blecherne Stimme grüßte die Gruppen, die gerade an der Tribüne vorbeiliefen. Das hörte sich dann etwa so an: (Marschmusik im Hintergrund) »Wir grüßen die Schülerinnen und Schüler der Leipziger Polytechnischen Oberschulen. Seite an Seite mit euren Lehrern kämpft ihr mit Fleiß und guten Noten für den Friedenund das Wohl der DDR. Macht mit beim Ernst-Thälmann-Aufgebot der FDJ!« und so weiter. Dazu winkten die Leute auf der Straße den Bonzen auf der Tribüne zu, und die Bonzen winkten zurück.
War man an denen vorbei, begann ein ganz anderes Schauspiel: Die Demo lief sofort auseinander. Die Leute hatten ihre Pflicht und Schuldigkeit getan und wollten schnell nach Hause. Wohin aber mit den Fahnen und Transparenten, die man eben noch tragen mußte? Einige Betriebe hatten für ihr Kontingent an Winkelementen schnell Kleintransporter herbeigeschafft, um ein Müllchaos zu verhindern. Wir Schüler hatten jedoch Pech, wenn sich nicht schnell ein Lehrer fand, der diese Bürde auf sich nahm. Einmal trugen wir alle große Pappschilder mit aufgemalten UdSSR-Luftpostbriefen, die wir auf der Demo hochhalten mußten, weil unsere Schule damit zeigen wollte, daß wir Brieffreundschaften mit Schülern aus der UdSSR pflegten. Überhaupt nicht gepflegt wurden nach Demo-Ende jedoch diese Schilder. »Hier, halt mal kurz, ich muß mal meinen Schnürsenkel zubinden«, wurde ich von Matze gebeten. Schwups hatte ich sein Schild in der Hand, und er war weg. Aber ich fand zum Glück jemanden, der den Trick noch nicht kannte …
Neben diesen offiziellen Aufmärschen gab es in Leipzig aber auch immer wieder nicht genehmigte Demos. Am 17. Juni 1953 natürlich, und 1965 protestierten etwa 800 Jugendliche gegen das Verbot zweier beliebter Leipziger Beat-Bands. Beim sinnlosen Abriß der Universitätskirche 1968 war ebenfalls einiges los. Wenn zu den Frühjahrs- und Herbstmessen viele westliche Journalisten und Fernsehteams in der Stadtwaren, posierten in letzter Zeit auch gerne einige Ausreisewillige lautstark auf dem Nikolaikirchhof nach den Friedensgebeten vor laufenden Westkameras, um so schneller von den Behörden aus der DDR rausgeschmissen zu werden.
Das Jahr 1989 fing bereits im Januar mit einer nicht angemeldeten Liebknecht-Luxemburg-Demo in der Leipziger Innenstadt an. Am Sonntag, dem 7. Mai 1989, waren außerdem Wahlen in DDR. Das bedeutete, daß die Wahlberechtigten in die Wahllokale gingen, dort einen Zettel mit den Kandidaten bekamen und diesen dann so, wie er war, in die Wahlurne steckten. Also eigentlich ging man nicht auswählen, sondern zustimmen. Wer mit irgendeinem Kandidaten nicht einverstanden war, ging in eine Kabine und strich den Namen durch. Dabei riskierte die betreffende Person jedoch, von aufmerksamen »Wahlhelfern« notiert zu werden. Hatte man gerade einen Antrag auf eine Westreise zum 70. Geburtstag der Mutti gestellt, war das natürlich nachteilig. Also dann lieber doch einfach nur Zettel falten, und ab in die Urne. Es änderte sich ja sowieso nichts.
1989 wurde die Stimmung in der Bevölkerung jedoch zunehmend schlechter. Darum hatten sich diesmal viele vorgenommen, den Zettel nicht einfach nur zu falten, sondern die Namen auch wirklich durchzustreichen. Als dann am Abend im Fernsehen die Wahlergebnisse bekanntgegeben wurden, staunten die Wähler nicht schlecht. Wieder hatten über 98 Prozent für die Kandidaten der Nationalen Front gestimmt. Das roch nach Beschiß, und viele Leute waren sauer. In Ostberlin kam es zu einer Spontan-Demo, und auch in Leipzig trafen sich einige Menschen bereits am Nachmittagan der Nikolaikirche. Auch von unserer Steinplatz-Clique waren welche mit in der Stadt. Die nicht ganz so Mutigen von uns, unter ihnen ich, wollten einfach nur als Zaungäste mal gucken. Viel zu sehen bekamen wir nicht. Nur diese auffällig unauffälligen Stasi-Typen. Überall standen sie in
Weitere Kostenlose Bücher