DJ Westradio
kleinen Grüppchen herum. Man erkannte sie an ihren DDR-Klamotten. Die trugen alle so einen trabantfarbenen Blouson und hatten kurze unmodische Haarschnitte. Außerdem konnten die gar nicht anders, als Stasi-mäßig zu schauen. Ich verpißte ich mich schnell wieder, das war mir zu heikel.
Knapp einen Monat später lief bei uns durch die Südvorstadt eine kleine Menschenkette. Grund war der zweite »Pleißegedenkmarsch« von kirchlichen Umweltgruppen. Der Fluß war in Leipzig mit den Jahren zu einer einzigen Chemiebrühe mutiert. Wir in unserer Clique wußten davon vorher nichts, sahen vom Steinplatz aus aber jede Menge Polizei-LKWs an uns vorbeiflitzen und wenig später auch die schweigende Menschenkette. Wir liefen an die nächste Straßenecke, um besser sehen zu können, und staunten über den Mut der Demonstranten, denn es war klar, daß sie gleich alle verhaftet werden würden. Die Menschenkette, vielleicht 20 bis 30 Leute, ging schweigend auf dem gegenüberliegenden Fußweg. Ganz vorn lief Suse aus meiner Lehrlingsgruppe, aber sie sah mich nicht. Sie blickte, wie alle anderen in der Menschenkette, schweigend zu Boden. Das Ganze wirkte schüchtern und entschlossen zugleich. Wir waren beeindruckt.
Der Sommer ging ins Land, und dann passierte etwas, womit keiner vorher gerechnet hatte: In Ungarn wurdendie Grenzzäune stellenweise abmontiert. Nun bot sich jedem der DDR überdrüssigen Bürger eine einigermaßen ungefährliche Möglichkeit, sofort abzuhauen. Und diese wurde umgehend und ausgiebig genutzt. Als wegen der sich anbahnenden Massenflucht von den DDR-Behörden keine Ungarn-Visa mehr erteilt wurden, quartierten sich kurz entschlossen Tausende auf dem Botschaftsgelände der Bundesrepublik in Prag ein. Der Exodus war nicht mehr zu stoppen. Zu Hause, bei der Arbeit und in den Freundeskreisen sprach man von nichts anderem. Mit meinen Eltern hockte ich stundenlang vorm Fernseher und sah die Berichte auf ARD und ZDF. In den DDR-Medien erfuhr man darüber nur Quatsch. Da hieß es in einer Zeitung, daß ein Mitropa-Kellner in einem Zug mit einer Mentholzigarette betäubt und gegen seinen Willen in den Westen entführt worden sei. Das eigentliche Problem wurde in den DDR-Medien völlig totgeschwiegen. Die Oberen hofften insgeheim, daß die Unzufriedenen abhauen würden und dann wieder Ruhe wäre. Es gab aber außerdem noch viele Unzufriedene, die dableiben wollten. Man merkte die Anspannung in der Bevölkerung auch daran, daß pausenlos neue Witze über die aktuelle Situation in Umlauf kamen. »Wie kommt man am schnellsten rüber? – Mit ’ner Fahrkarte nach Ungarn und einer Menthol-Zigarette.« Das Volk schaffte sich eigene Ventile, zunächst nur mit dem Ausdenken von Witzen.
Auch außerhalb der Messe trafen sich jetzt die Ausreisewilligen nach dem wöchentlichen Friedensgebet in der Nikolaikirche, um »Wir wollen raus!« zu rufen. Bislang hatte uns das im Freundeskreis nicht so sehr interessiert, denn wir waren ja noch Teenager und wolltenbeziehungsweise konnten nicht raus. Doch selbst in unserem weiteren Bekanntenkreis verschwanden nun einige Richtung Westen. Wir konnten uns das noch schwer vorstellen, hier alles hinter uns zu lassen. Uns gefiel es in unserer Südvorstadt. Die Familie, die Partys bei Triebi, die Konzerte, die Kumpels, unser Scherbelberg – wir wollten nicht weg. Aber politische Veränderungen wollten wir natürlich auch. Was Gorbatschow in der UdSSR seit einigen Jahren versuchte, das sagte uns viel mehr zu. Zumindest das, was wir uns darunter mit unseren 16, 17 Jahren vorstellen konnten. Als dann nach den Friedensgebeten eine Gruppe Demonstranten rief: »Wir bleiben hier!«, fühlten wir uns angesprochen. Genau, das war es! Wir bleiben hier und machen es uns hier schön.
Am 25. September hatte sich in Leipzig nach einem Friedensgebet in der Nikolaikirche spontan ein Demonstrationszug mit mehreren Tausend Teilnehmern formiert. Diesmal standen die Protestierenden nicht nur auf dem Nikolaikirchhof rum, sondern liefen ein Stück auf dem Innenstadtring. Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Als wir in der Clique dieses Ereignis besprachen, stand für uns fest: Am nächsten Montag schauen wir uns das mal an. Thümi war im Rahmen seiner Lehrausbildung zum Säureschutzfacharbeiter auf Montage und leider nicht in Leipzig. So traf ich mich am Abend des 2. Oktober mit Nobi, Triebi und Rüdi zum Demonstrieren. Fast so wie zum 1. Mai, nur eben völlig aus freien Stücken. Unsere erste
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