Doch du wirst nie vergessen: Roman (German Edition)
Stunden ein Feuer gemacht.«
»Mir ist schon viel wärmer«, versicherte Belle. »Ich hatte solche Angst, als ich von Bord ging. Ein Glück, dass Monsieur Germaine mich hierhergebracht hat.«
Madame Albertine lächelte warm. »Wie schön, über die Feiertage weibliche Gesellschaft zu haben! Und jetzt stelle ich Ihnen noch etwas Brot und Käse hin. In die Küche finden Sie sicher allein, sie geht direkt von der Diele ab. Fühlen Sie sich wie zu Hause, ja? Wir sehen uns morgen früh. Haben Sie vielleicht Lust, mit mir auf den Markt zu gehen, um etwas für das Weihnachtsessen einzukaufen?«
Bevor Albertine ging, sagte sie Belle noch, es sei genügend warmes Wasser da, falls sie ein Bad nehmen wollte. In New Orleans hatte Belle in Töpfen Unmengen Wasser kochen müssen, um eine Zinkwanne zu füllen, und auf dem Schiff hatte sie sich mit einem dünnen Wasserstrahl begnügen müssen. Zu hören, dass es hier ein richtiges Bad gab, war wie ein verfrühtes Weihnachtsgeschenk.
In dieser Nacht schlief Belle wie ein Murmeltier. Sie wachte erst auf, als die Fensterläden geöffnet wurden und die Sonne ins Zimmer schien. Madame Albertine stand mit einem großen Becher Kaffee vor ihr.
»Wenn Sie mich auf den Markt begleiten wollen, müssen Sie jetzt aufstehen«, sagte sie mit einem breiten Lächeln. »Raus aus den Federn!«
Belle war hingerissen von den schmalen, gewundenen Gassen, die zum Markt in der Nähe des Hafens führten. Viele der Häuser wirkten ziemlich vernachlässigt; die Farbe blätterte ab, die Türen sahen uralt aus, und alles wirkte eng und verschachtelt. An den Fensterläden und den schmiedeeisernen Balkonen erkannte man eine Ähnlichkeit zum French Quarter in New Orleans. Marseille wirkte wie die ältere und ungepflegtere Schwester. Die Straßen waren enger, die Gerüche kräftiger, und es gab keine englischen Straßenschilder.
Als sie den Markt erreichten, gab Belle gut acht, Madame Albertine nicht von der Seite zu weichen, weil sie Angst hatte, in dem Gedränge hoffnungslos verloren zu gehen. Sie kannte viele Märkte – daheim in Seven Dials gab es jeden Tag einen –, aber so etwas wie das hier hatte sie noch nie gesehen.
Es gab hunderte Marktstände mit allen erdenklichen Lebensmitteln, von denen Belle viele nicht einmal vom Sehen kannte. Fasane, Hasen und Kaninchen hingen an ihren Hinterläufen an Holzstangen, und auf riesigen Regalen lagen frisch gerupfte Puten, Hühner und Gänse. An manchen Ständen gab es Berge schimmernder roter Äpfel, an anderen verschiedenste Obst- und Gemüsesorten, die so geschmackvoll angeordnet waren, dass sie an ein Kunstwerk erinnerten. Extra zu Weihnachten wurden köstliche Torten und Früchtekuchen angeboten. Riesige rote, braune und weiße Würste hingen an Haken, und häufig schnitt der Verkäufer eine Scheibe ab und forderte die Käufer zum Kosten auf. Dazu gab es eine Unmenge Gläser, in denen Belle Konfitüre vermutete, auch wenn sie den tatsächlichen Inhalt nicht erkennen konnte. An anderen Ständen wurde ausschließlich Brot verkauft, und viele der Laibe waren zu Zöpfen oder anderen ausgefallenen Formen geformt. Außerdem gab es Kräuter, Gewürze, Flaschen mit Wein und Spirituosen, Schokolade, Karamell und andere Süßwaren.
Hier und dort gab es Stände mit handbemaltem Weihnachtsschmuck und auch mit Zuckerguss verzierte Lebkuchen, die Belle sofort an Mog erinnerten. Genau solche Lebkuchen hatte sie zuWeihnachten auch gebacken und an einer Schnur über dem Kamin aufgehängt.
Einen Weihnachtsbaum hatte es bei ihnen zu Hause nie gegeben. Annie hatte für so etwas nichts übrig, eigentlich schien sie keine der weihnachtlichen Traditionen zu mögen. Mit sieben Jahren hatte Belle zu ihrer großen Enttäuschung erfahren, dass der große rote Wollstrumpf, den Mog immer am Kamin aufhängte, damit der Weihnachtsmann Süßigkeiten, Nüsse und kleine Spielsachen hineinstecken konnte, in Wirklichkeit von Mog gefüllt wurde. Aber auch wenn Annie mit Weihnachtsbräuchen nichts im Sinn hatte, das Feiern gefiel ihr. Das Haus wurde geschlossen, und die Mädchen, die keine Familie in der Nähe hatten, setzten sich zu ihnen in die Küche. Belle erinnerte sich, dass es immer lustig gewesen war und Mog und ihre Mutter meistens einen kleinen Schwips hatten. Manchmal gab es gebratene Gans oder ein großes Brathuhn mit einer herrlichen Füllung, und außerdem Würstchen und das, was Mog ihre speziellen Weihnachtsröstkartoffeln nannte. Belle wusste, wie begeistert Mog von
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