Doch du wirst nie vergessen: Roman (German Edition)
entweder faul oder habgierig waren.
Belle weinte vor Scham. Sie war unschuldig gewesen, als Mr. Kent sie entführte und an Madame Sondheim verkaufte. Aber wie in aller Welt hatte sie sich von Martha einreden lassen können, es wäre in Ordnung, zehn Männer pro Nacht zu bedienen? Wie hatte sie derartig jeden Ehrbegriff verlieren können?
Sie war immer stolz auf ihren Mut gewesen, aber wirklich mutig wäre es gewesen, in New Orleans zur Polizei zu gehen und zu berichten, was man mit ihr gemacht hatte und warum. Das wäre wesentlich besser gewesen, als den Ehrgeiz zu entwickeln, die beste Hure im Haus zu werden, und sich selbst auf die Schulter zu klopfen, weil sie ein Dutzend Methoden gelernt hatte, ihre Kunden möglichst schnell zum Ejakulieren zu bringen, damit sie sich dem nächsten armen Idioten widmen konnte.
Wie viele Leben anderer Mädchen hatten Kent und seine Kumpane zerstört? Wie viele Mütter und Väter trauerten um ihre verlorenen Töchter? Wenn sie den Mut aufgebracht hätte zu reden, hätte sie vielleicht ein paar von ihnen retten können.
Während sie sich ausweinte, kam ihr der Gedanke, dass ihre Mutter vielleicht aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen so kalt wirkte und scheinbar lieblos ihrem Kind gegenüber war. Belle hatte keine Ahnung, wie und warum Annie zur Hure geworden war, und nun würde sie es vermutlich nie erfahren. Erst jetzt begriff sie, dass Annie ihr Möglichstes getan hatte, um ihre Tochter zu schützen. Die strenge Regel, dass Belle nach sechs Uhr abends nicht mehr nach oben durfte, und Annies Bemühungen, sie von den Mädchen fernzuhalten und sie zu ermutigen, Bücher und Zeitungen zu lesen, all das war geschehen, damit Belle etwas über die Welt jenseits der Grenzen von Seven Dials erfuhr. Auch dass Annie zugelassen hatte, dass Belle in Mog eine zweite Mutter sah, war ein Akt derSelbstlosigkeit. Die liebe, gütige und warmherzige Mog hatte den denkbar besten Einfluss auf sie ausgeübt, indem sie Belle nicht nur gute Umgangsformen beibrachte, sondern sie auch lehrte, Recht von Unrecht zu unterscheiden, damit sie nicht denselben Weg einschlug wie ihre leibliche Mutter.
»Ich habe sie enttäuscht«, schluchzte Belle in die Matratze, und dieser Gedanke war schlimmer als alles, was Pascal ihr antun konnte.
KAPITEL 30
Nachdenklich betrachtete Gabrielle auf der Heimfahrt im Zug die Adresse, die Lisette ihr gegeben hatte. Wenn sie Noah Bayliss noch heute schrieb, würde es eine Woche oder länger dauern, bis er den Brief bekam. Das war zu lang; sie musste ihm ein Telegramm schicken.
Aber was sollte sie schreiben? »Brauche Hilfe, um Belle zu finden«, würde nicht viel bringen, wenn dieser Noah bereits versucht hatte, das Mädchen zu finden, und gescheitert war. »Belle in Gefahr, bitte sofort kommen!« würde die Mutter des Mädchens in Angst versetzen. Aber was sie ihm auch schrieb und ob sie ihn erschreckte oder nicht – es würde auf jeden Fall ein paar Tage dauern, bis er hier war.
Sie würde auf jeden Fall ein Telegramm an ihn aufgeben, aber was sie jetzt brauchte, war jemand, vorzugsweise ein Mann, der die vornehmsten Hotels in Paris und vielleicht auch die Leute kannte, die Mädchen an männliche Gäste vermittelten, und der es möglicherweise sogar schaffte, die Initialen auf der Nachricht an Belle zu identifizieren.
Früher einmal hatte sie ein halbes Dutzend solcher Männer gekannt, heute nicht mehr. Sie hatte das Gefühl, dass Belles Etienne sich hervorragend für diese Aufgabe eignen würde, aber wenn nicht einmal Lisette wusste, wie man ihn erreichen konnte, wie sollte es dann ihr gelingen?
Es war ein ungeheurer Glücksfall, dass ausgerechnet Lisette Belle gepflegt hatte, wenn auch nicht ganz so ein Zufall, wie Gabrielle zunächst gedacht hatte. Schließlich arbeitete Lisette für die Leute, die junge Mädchen kauften und verkauften. Gabrielle beschloss,ihre Freundin zu überreden, mit Jean-Pierre wegzugehen und jede Verbindung zu diesen schrecklichen Menschen abzubrechen, wenn Belle erst einmal gefunden war.
Gerade als der Zug langsamer wurde und in den Bahnhof rollte, fiel Gabrielle unvermittelt ein, dass Marcel, der die Wäscherei zwei Türen weiter vom Mirabeau führte, aus Marseille stammte. Es hieß, dass er früher ein ziemlich bewegtes Leben geführt hatte. Sie war eine gute Kundin bei ihm, und selbst wenn er Etienne nicht kannte, konnte er ihr vielleicht den einen oder anderen Tipp geben.
Gabrielle ging schnurstracks zum Postamt und gab ein Telegramm an
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