Doch du wirst nie vergessen: Roman (German Edition)
mit einem schmalen Eisengestell, gab es nur noch einen schlichten Holzstuhl und einen filzbezogenen Kartentisch, auf dem ein Krug Wasser und ein Glas standen. Die Wände waren weiß gestrichen und über dem Bett hing ein Kruzifix. Kein Spiegel, keine Bilder, nicht einmal ein Waschtisch. Belle fragte sich, wo sie sein mochte.
Erst jetzt fiel ihr wieder ein, dass sie sehr krank gewesen und von einem Arzt untersucht worden war. Jetzt war ihr nicht mehr schlecht, und als sie sich im Bett vorsichtig bewegte, stellte sie fest, dass ihre Geschlechtsteile nicht mehr wund waren. Es gelang ihr, sich ein Glas Wasser einzugießen; ihr Mund war wie ausgetrocknet, und es tat gut zu trinken.
Als die Tür aufging, schrak sie zusammen, duckte sich unwillkürlich und senkte den Blick.
Eine Frau sagte etwas auf Französisch zu ihr, mit einer sanften Stimme, die ebenso beruhigend war wie die Stille ringsum.
»Geht es dir jetzt besser, ma chérie ?«, fragte sie dann auf Englisch.
Belle schlug die Augen auf und sah eine sehr hübsche Frau umdie dreißig vor sich. Sie hatte hellbraunes, zu einem Knoten geschlungenes Haar und große graue Augen, und sie trug ein hochgeschlossenes graues Wollkleid mit einer Perlenbrosche am Kragen.
»Sie sprechen Englisch?« Belle merkte, dass ihre Stimme heiser klang.
»Ja, ein wenig«, antwortete die Frau mit deutlich hörbarem französischem Akzent. »Ich bin Lisette, und ich ’abe dich gepflegt, seit du ’ier bist.«
»Was ist das hier für ein Ort?«, fragte Belle ängstlich.
Lisette lächelte. Ihre Lippen waren voll und weich, und sie hatte die Art Lächeln, bei dem einem warm ums Herz wurde.
»Ein guter Ort«, sagte sie. »Du musst keine Angst ’aben.«
»Keine Männer mehr?«, fragte Belle mit dünner Stimme.
Lisette nahm Belles Hände in ihre. »Keine Männer mehr. Ich weiß, was man dir angetan ’at. Es wird nicht mehr passieren. Du wirst gesund und stark werden.«
»Dann kann ich nach England zurück?«
Sie sah es Lisette an, dass diese Hoffnung vergeblich war. »Nach England, nein. Madame Sondheim ’at dich weitergegeben. Du kannst nicht zurück.«
Damit gab Belle sich einstweilen zufrieden. Sie war hungrig, sie musste sich waschen, und wenn sie hier an diesem friedlichen Ort unbesorgt schlafen konnte, dann war das schon sehr viel wert.
KAPITEL 11
Mog erwachte aus einem seltsamen, irgendwie bedrohlichen Traum. Sie lag einen Moment im Dunkeln und fragte sich, worum es darin eigentlich gegangen war und ob sie aufstehen und sich eine Tasse Tee machen sollte. Aber auf einmal nahm sie den Geruch von Rauch wahr und sprang aus dem Bett.
Feuer war in ganz London eine allgegenwärtige Gefahr, ganz besonders aber in Gegenden wie Seven Dials, wo die Häuser eng beieinander standen und größtenteils baufällig waren. Mog hatte immer darauf geachtet, den Mädchen einzuschärfen, wie leicht ein Feuer entstehen konnte, wenn heiße Glut auf einen Teppich fiel, eine brennende Kerze umgestoßen wurde oder lange Röcke eine offene Flamme streiften.
Aber als Mog drei Viertel des Wegs vom Souterrain nach oben zurückgelegt hatte und feststellte, dass das Feuer in der Nähe der Eingangstür brannte, wusste sie, dass nichts von alldem die Ursache war.
Ganz offensichtlich war ein brennender Lappen oder Ähnliches durch den Briefschlitz geschoben worden. Es war nicht schwer zu erraten, wer dahintersteckte, aber im Moment dachte Mog nur daran, alle unversehrt aus dem Haus und in Sicherheit zu bringen.
Obwohl das Feuer die Treppe, die in die oberen Stockwerke führte, noch nicht erreicht hatte, konnte es nicht mehr lang dauern, und Mog wusste, dass es Wahsinn gewesen wäre, selbst nach oben zu laufen. Stattdessen rannte sie in den Salon, griff nach der Glocke, die zwanzig Minuten, bevor das Haus geschlossen wurde, geläutet wurde, und schwenkte sie mit aller Kraft.
Annies Zimmer befand sich im Parterre, direkt hinter derTreppe, und sie erschien gerade in dem Moment, als Mog zu läuten anfing. Sie schrie auf, als sie die Flammen in der Diele sah, aber Mog wusste, dass jetzt keine Zeit für Erklärungen oder hysterische Anfälle war.
»Nimm!«, sagte sie und drückte Annie die Glocke in die Hand. »Läute und schrei, bis die Mädchen alle runterkommen! Aber geh nicht nach oben, sonst sitzt du in der Falle. Ich hole ein paar Eimer Wasser von unten und versuche das Feuer einzudämmen. Sag den Mädchen, dass sie in Jake’s Court gehen und laut schreien sollen, um die Feuerwehr zu
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