Doch du wirst nie vergessen: Roman (German Edition)
um mich gekümmert hat«, platzte sie heraus. »Sie machen sich bestimmt schreckliche Sorgen. Kannst du mir nicht helfen, von hier zu entkommen?«
Lisette machte ein gequältes Gesicht. »Ich wünschte, ich wäre so mutig, aber sie würden meinem Jean-Pierre etwas antun. Eine alleinstehende Mutter darf kein Risiko eingehen«, sagte sie. »Aber glaub mir, Belle, selbst wenn du irgendwie entwischen kannst, ohne Geld kommst du nie zurück nach England. Vielleicht würdest du bei noch schlechteren Menschen landen.«
Belle war alles andere als dumm, und nach allem, was sie bisher durchgemacht hatte, wusste sie, dass ihre »Eigentümer« jedem, der ihr zur Flucht verhalf, übel mitspielen würden. Es war also verständlich, dass Lisette um die Sicherheit ihres Sohns fürchtete. Außerdem wusste Belle, dass sie, selbst wenn sie den Weg zur Küste fand, ohne Geld keine Möglichkeit hatte, den Ärmelkanalzu überqueren. »Schon gut«, sagte sie mit einem schwachen, traurigen Lächeln. »Du warst so lieb zu mir, und ich will dich nicht in Schwierigkeiten bringen. Aber warum wollen sie mich nach Amerika bringen? Das ist so weit weg!«
Lisette zuckte die Achseln. »Das weiß ich nicht. Vielleicht sind englische Mädchen dort sehr beliebt. Aber die Leute dort sprechen deine Sprache, und das ist gut.«
Belle nickte.
»Du machst keinen Ärger und bist lieb und nett und ’ältst die Augen offen. Du findest die Schwächen von den Leuten und nutzt sie aus«, fügte Lisette hinzu.
Belle erinnerte sich an Mogs Behauptung, dass Annie die Schwächen anderer Leute erkannte und sie gegen sie ausspielte. Damals hatte sie sich darunter nicht viel vorstellen können, jetzt schon.
»Schickt Madame Sondheim mich nach Amerika?«
» Non .« Lisette wedelte mit dem Finger. »Sie verkauft dich, wenn du bist krank. Sie ’at schon viel Geld mit dir gemacht und will dich nicht mehr ’aben.«
Belle konnte ihre Tränen kaum unterdrücken. Die Vorstellung, dass sie wie eine Rinderhälfte auf dem Smithfield Markt weitergereicht wurde, war entsetzlich. »Dann könnte mein neuer Besitzer noch schlimmer sein?«, fragte sie.
»Deine neuen Besitzer bezahlen, damit du ’ier sein kannst. Sie wollen, dass du gutes Essen bekommst und ein weiches Bett, und dass du wieder gesund wirst. Du bist wertvoll für sie; sie tun dir nichts, wenn du keine Probleme machst.«
Belle war zu verstört, um noch mehr Fragen zu stellen. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass jemand, der imstande war, ein krankes junges Mädchen, das systematisch von mehreren Männern vergewaltigt worden war, zu kaufen und nach Amerika zu schicken, auch nur einen Funken Anstand im Leib hatte.
Sie senkte den Kopf und fing an zu weinen.
Lisette legte eine Hand auf ihre Schulter. »Ich ’abe schon viele Mädchen wie dich betreut, aber ich kann sehen, dass du eine vonden Starken bist. Und du bist schön und auch klug, glaube ich. Benutze deinen Verstand. Sprich mit den älteren Mädchen, lerne von ihnen, und warte auf deine Chance.«
Sie huschte leise hinaus und ließ Belle weinend zurück.
Belle hatte das Gefühl dafür verloren, wie viel Zeit seit dem Tag von Millies Beerdigung, als man sie von der Straße weg entführt hatte, vergangen war. Sie wusste noch, dass es der 14 . Januar gewesen war, und wahrscheinlich hätte sie Lisette nach dem genauen Datum fragen können, aber sie ließ es, weil sie Angst hatte, sie würde nicht mehr daran glauben können, ihre Mutter oder Mog jemals wiederzusehen, wenn sie genau wusste, wie lange das alles schon her war.
Sie vermisste London so sehr, dass ihr das Herz wehtat. Mog, den Duft von Gebackenem in der Küche, das wohlige Gefühl, wenn sie Belle abends mit einem Kuss zu Bett brachte, das Wissen, dass Mog sie immer lieben würde. Und auch ihre Mutter. Sie besaß zwar nicht Mogs Wärme, aber manchmal, wenn sie auf Belle stolz war, tauchte ein ganz bestimmtes kleines Lächeln auf ihrem Gesicht auf. Und manchmal ertönte auch ihr hübsches, wenn auch seltenes Lachen. Belle bekam es öfter als andere zu hören, weil ihre Mutter sie lustig fand.
Aber es waren nicht nur die Menschen, die ihr fehlten, es waren auch die lauten Stimmen der Straßenverkäufer, die Art, wie die Leute redeten, der Lärm, das bunte Treiben, die Gerüche. Paris mochte eine prachtvolle Stadt sein, aber es war nicht ihre Stadt. Sie wollte wieder mit Jimmy über den Blumenmarkt schlendern oder zum Park am Embankment laufen und über das Eis schlittern. An jenem Tag, als er
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