Doctor Boff - Weiberkranckheiten
das war nie geschehen. Der Respekt vor dem Doctor ließ so etwas nicht zu. Er kam eine halbe Stunde vor den Patienten und arbeitete. Er schrieb Briefe, er sortierte seine Bibliothek ein und suchte nach Quellen und Hinweisen über Krankheitsbilder. Er unterhielt sich mit Hermine und mit Stine. Die Hebamme war tatsächlich in ihren Dachverschlag zu den Tauben gezogen. Boff ließ sie gewähren, aber der nächste Winter würde eine Entscheidung fordern. Er würde nicht zulassen, dass sich die junge Frau aus falschem Stolz in Gefahr brachte. Die Kemenate war nicht zu heizen, falls sie einen Ofen fordern würde, würde er das untersagen. Die Gefahr eines Brandes war zu groß. Hermine war eine gute Frau und Mitarbeiterin, sie hatte ein besseres Quartier verdient. Einstweilen vermieden beide das Thema.
Wenn Boff mit Patientinnen sprach, war Hermine stets im Raum. So wurde die Tradition eingehalten. Für viele Patientinnen war das wichtig, einigen war es einerlei.
»Fasst mich ruhig an, wo Ihr wollt«, forderte ihn eine unverblümt auf. »Wenn es mir nicht zusagt, werde ich es Euch wissen lassen.«
Aber er fasste sie selten an. Schon gar nicht berührte er die Frauen an Stellen, die von der Kleidung verborgen wurden. Er hatte keine Probleme, am Hals nach Knoten zu tasten. Er blickte tief in Augen und tief in Ohren. Er blickte in offene Münderund fasste Hände an. Bei den Füßen wurde es unübersichtlich. Die Füße, die zu untersuchen eine Freude gewesen wäre, steckten in zierlichen Schuhen und blieben dort. Die Füße, die in Holzpantinen und Lumpen steckten, waren die Füße von armen Frauen, von hart arbeitenden Frauen, schmutzige und ungepflegte Füße. Wenn Füße schmerzten, waren es eingewachsene Nägel und eingetretene Dornen. Wenn er den Frauen riet, die Nägel nicht zu lang werden zu lassen, fragte er sicherheitshalber nach, mit welchen Werkzeugen sie den Nägeln zu Leibe rücken würden. Oft sträubten sich ihm die Haare, denn mit diesen Werkzeugen hätte man die Füße auch amputieren können.
Die Menschen gingen rücksichtslos mit ihren Körpern um. Am rücksichtslosesten waren die, die ihrem Körper alles verdankten: Arbeit, Lohn und Leben. Sie sahen den Körper als Maschine. Solange die Maschine lief, verloren sie kein Wort über sie. Nur wenn sie stotterte, war die Aufregung groß. Dann rannten sie zum Doctor, er sollte reparieren und dafür sorgen, dass alles wurde wie vorher.
»Ihr müsst Euren Körper mehr schätzen«, sagte der Doctor. Sie sahen ihn an, als würden sie sich wundern, warum der Doctor zu predigen begann. Es gab eine Sprache für die Kanzel und eine für das Leben. Auf der Kanzel erzählte der Pastor fromme Geschichten, die nichts mit dem Alltag seiner Zuhörer zu tun hatten. Der Doctor sollte nicht das Gleiche tun.
»Nur gesund machen«, sagte eine Frau mit sanfter Stimme, »damit ich wieder springen kann.«
»Würde es Euch denn nicht freuen, wenn Ihr den nächsten und übernächsten Besuch bei mir überspringen könntet?«
Nein, daran hatte sie noch nie gedacht. Sie riss sich nicht darum, den Doctor aufzusuchen. Aber schön war es doch, eine Ausnahme im Einerlei des Alltags. Der Doctor war ein kluger Mann und ging mit Frauen höflich um. Er fand die richtigen Worte und lachte mit den Frauen über scherzhafte Bemerkungen. Wenn man Glück hatte, war er ein stattlicher Mann.Das bedeutete den Patientinnen nicht wenig. Es schmeichelte ihnen, in ihrem Alltag hatten sie es nicht mit männlichen Ungeheuern zu tun. Aber gepflegte und kultivierte Männer waren die Ausnahme, und ein Doctor war auch der Ausflug in eine gesellschaftliche Sphäre, mit der man sonst keine Berührungspunkte hatte. Kontakt mit Adligen und Bürgern war für diese Frauen in der Regel mit Ärger verbunden. Man hatte etwas falsch gemacht, man war Geld schuldig geblieben, man war unter einen Verdacht geraten, man wurde verfolgt und musste mit Strafen rechnen, mit dem Verlust von Arbeit und Lohn und Wohnung. Man fürchtete sich vor dem Nichts.
Doctor Boff lächelte, schäkerte, erzählte eine Geschichte, die man nicht immer zur Gänze nachvollziehen konnte, aber geschmeichelt fühlte man sich trotzdem oder gerade deswegen. Denn der Doctor traute einem offensichtlich zu, seine Geschichten zu verstehen. Das war schön. So lächelte man und machte gute Miene zum anstrengenden Spiel. Wenn man eine richtige Krankheit vorweisen konnte, blickte er ernst oder besorgt. Er machte sich Gedanken oder sogar Sorgen, und dann trat
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