Doctor Boff - Weiberkranckheiten
persönliche Verhältnisse wusste.
»Woher?«, fragte Boff.
Wünsch tat, als würde er die Frage nicht verstehen.
Boff sagte: »Das Netz.«
Wünsch nickte anerkennend, die Schwester sagte: »Hat er Euch seinen Vortrag gehalten? Männer lieben es, in diesen Bahnen zu denken.«
Boff erkundigte sich nach Tänzer. Hatte er Feinde? Beruflich? Privat? Hatte er dem Ehrgeiz eines Bürgers im Weg gestanden? Hatte es einen Streit gegeben, der in der Stadt für Aufsehen gesorgt hatte?
Das Ehepaar Tänzer hatte in gutem Frieden miteinander gelebt, Kinder waren nicht vorhanden, auch keine, die früh gestorben waren. Er war in einem Dorf bei Gera geboren, hatte seine Lehrjahre in Leipzig und Prag verbracht, bevor er nach Halle gekommen war. Damals hatte die Stadt sich nach einemneuen Physicus umgesehen, weil es den alten in den Ruhestand gezogen hatte. Der war bald darauf nach Italien übergesiedelt, wo er seine lebenslange Leidenschaft nach der Klassik ausgelebt hatte, bis er in Rom bei der Besichtigung eines Hauses aus der Cäsar-Ära von einer einstürzenden Wand getötet worden war. Der alte Physicus war in Harmonie gegangen. Keine Drohungen, keine Geheimnisse.
Tänzer war sechzehn Jahre Physicus gewesen, seit 1716. Es hatte Streit gegeben, aber der war stets sachlich begründet gewesen, und am Ende war der Streit beigelegt worden: durch Abstimmung, durch ein Friedensbesäufnis, durch ein Ich-gebe-dir-gib-du-mir-Spiel. Politik eben. Der Stadtphysicus war nicht nur Mediziner, sondern auch Politiker. Wenn er das ablehnte, war er eine Fehlbesetzung. Tänzer hatte es nicht abgelehnt, war aber so souverän gewesen, dass der politische Teil seiner Arbeit selten die Öffentlichkeit erreicht hatte. »Mir hat jemand gesagt: Dieser Tänzer ist ein langweiliger Zeitgenosse. Macht alles richtig, nie unterläuft ihm eine Panne. Wann gibt uns der Mann endlich einen Skandal? Wir wollen nicht nur ordentliche Beamte, wir wollen gute Schauspieler und Komödianten.«
Die Schwester liebte es, die Ernsthaftigkeit der politisch Verantwortlichen auf den Arm zu nehmen. Sie konnte tun und sagen, was sie wollte: Boff fand alles hinreißend, denn sie verstand es, nie verbissen zu werden. Ihr Lächeln war so sanft, dass sich niemand gedemütigt fühlen musste. Wie hatte diese Frau es geschafft, mit dreißig Jahren noch nicht verheiratet zu sein? Oder war sie es schon gewesen? Boff vermied es, diesbezügliche Fragen an Wünsch zu richten. Er hatte das sichere Gefühl, dass der andere unverzüglich mit den Hochzeitsvorbereitungen beginnen würde.
Mühsam kehrte Boff zu dem Thema zurück, das ihn ins Haus des Kollegen geführt hatte. Hoppes Flucht und ihre Hintergründe. Wünsch gab freimütig zu, dass es ihm gleichgültig war, warum sich der Gefangene verdünnisiert hatte. »Erist in dieser Minute längst hinter Leipzig. Den sehen wir nie wieder. Er müsste ja dumm sein, wenn er sich hier verstecken würde.«
»Er würde auch nur aus einem einzigen Grund hierbleiben.«
»Um sein grässliches Werk zu vollenden, meint Ihr? Aber warum? Er hatte seine Chance, er hat sie vermasselt. Stellt Euch vor, heute Nacht stirbt Tänzer durch die Hand eines Unbekannten. Ist es nicht gleichgültig, ob Hoppe es war oder ein anderer? Man wird es ihm auf alle Fälle anhängen.«
»Was ein zweiter Grund für ihn wäre, die schnellste Kutsche zu nehmen. Grund eins: Er ist geflohen und will nichts außer seiner Freiheit. Grund zwei: Er weiß, dass Tänzer wieder wach ist und hat seit diesem Moment Angst um sein eigenes Leben. Bis eben noch sah es so aus, als habe seine feige Tat Erfolg gehabt. Tänzer war ja praktisch tot, weil nicht ansprechbar. Plötzlich ist alles wieder offen. Wenn es also jemand gibt, der Hoppe damals beauftragt hat, dann muss Hoppe diesen Unbekannten jetzt fürchten. Vielleicht ist die Belohnung für die Tat schon geflossen, an Hoppe oder an Leute seines Vertrauens. Dann müssen sie fürchten, das Geld wieder hergeben zu sollen. Nach allem, was ich weiß, gibt es aber in der Familie dieses Hoppe keinen Wohlstand. Wenn sie Angst haben, das Geld wieder zu verlieren, werden sie sich wehren.«
»Oder sie haben das Geld längst ausgegeben«, warf die Schwester ein. »Ich hätte das getan.«
Boff sprach nicht aus, dass sie ihn auf eine neue Idee gebracht hatte, keine, die geeignet gewesen wäre, ihn zu beruhigen. Plötzlich hielt er es für möglich, dass nicht nur Hoppe den alten Stadtarzt töten könnte. Plötzlich kam jeder aus Hoppes Familie
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