Doctor Boff - Weiberkranckheiten
angeberisch. Boff hoffte, dass er es damit bewenden lassen würde und auf Einzelheiten verzichtete. Auch auf Einzelheiten von der Autopsie, die Boff und Rohwedder gemeinsam vorgenommen hatten.
Hermine war zur Trauerfeier gekommen und drei Freunde von Tänzer, denen man an der Nasenspitze ansah, dass es sich um Ärzte handelte: würdige, korpulente Männer, deren Köpfe wie bewaldet aussahen mit Haarmähnen und Bärten. Einen Teilnehmer kannte Boff nicht, er war jung, drückte sich am Rand herum und war nicht darauf erpicht, angesprochen zu werden. Die Witwe kannte ihn, wenn ihr auch der Name nicht einfallen wollte. Für diesen Mann hatte sich Tänzer verwandt, damit er an der Universität angenommen wurde. Aus ihm sollte ein begabter Arzt werden. Aber das Schicksal hatte ihn zum Ernährer von fünf jüngeren Geschwistern bestimmt, denen in kürzester Zeit Vater und Mutter weggestorben waren und denen der steile Absturz in die Mittellosigkeit drohte. Der Mann studierte nicht mehr und übte jetzt zwei Berufe aus: einen auf dem Rathaus, einen für den Grafen Argus, für den er die Korrespondenz in fremden Sprachen erledigte. Den Geschwistern ging es gut, ein Bruder sollte Medizin studieren, die kleine Schwester wollte es ihm nachtun und ließ sich nicht davon abschrecken, dass es Frauen verboten war, den Beruf der Ärztin auszuüben.
Das Grab lag unter einer Eiche, die die Tänzers bei einer gemeinsam besuchten Beisetzung vor über zwanzig Jahren entdeckt hatten. Seitdem war es sein Traum gewesen, im Schutz dieses Baums ausschlafen zu dürfen. Die Halleschen Ärzte und Politiker hatten Katarina geraten, sich den sentimentalen Gedanken aus dem Kopf zu schlagen. Für einen Stadtphysicus war in der Stadt ein Friedhof vorgesehen, um den er nicht herumkommen würde: groß, stark, wuchtig, dunkel, bedrohlich.
»Wir haben ihnen eins ausgewischt«, sagte die Witwe und freute sich wie ein junges Mädchen. Sogar das Wetter freute sichmit. Sonne und Wolken spielten ein neckisches Spiel, zeigten sich, versteckten sich. Der Tag hatte nichts Bleischweres und Graues, das hatte man alles in Halle gelassen. Fünf Kutschen warteten auf dem Weg, die Pferde standen unter fürsorglicher Belagerung der Dorfkinder, misstrauisch beäugt von den Kutschern.
In weiser Erkenntnis der Lage hatte die Witwe den Umtrunk abgesagt. Jeder wollte so schnell wie möglich nach Halle zurückkehren, das war unausweichlich, obwohl niemand sich die Blöße gab, ungeduldig zu werden. Im Gegenteil: Man genoss die Minuten auf dem Friedhof auch deshalb, weil es hier still war. Was wichtig war und unwichtig, ließ sich an keinem Ort so klar erkennen wie auf einem Friedhof. Katarina Tänzer erkundigte sich nicht nach den Unterlagen, die sie ihm überreicht hatte, und Boff erwähnte sie nicht. Sie bedankte sich bei jedem einzeln, und jeder neigte den Kopf, um ihres Mannes zu gedenken, der allen ein Beispiel gewesen war. Und es bleiben würde. Manche Menschen waren am Tag der Beerdigung fast schon vergessen. Eine Tatsache, so wahr wie schrecklich. Dieser Mann fing gerade erst an, die Überlebenden zu beeinflussen.
»Solche brauchen wir«, sagte einer der Ärzte, und der Pastor, mickrig wie ein Schneider, konnte endlich seine Klage loswerden, den teuren Toten zu Lebzeiten nie gesehen zu haben. »Alles, was ich von ihm weiß, weiß ich von anderen. Ich kenne den Mann, als wäre er mein Nachbar gewesen.«
Einer nahm dann doch seinen Mut zusammen und fragte die Witwe nach ihren Plänen. Sie wich nicht aus: »Fünfmal am Tag ziehe ich aus dem Haus aus, und fünfmal ziehe ich wieder ein. Daraus schließe ich, dass wohl noch etwas Zeit vergehen muss. Jedenfalls graut mir nicht davor, allein im Haus zu sein. Das weiß ich sicher, und selbst da war ich vor kurzem noch sehr wacklig.«
Zwei Ärzte rieten ihr zu vermehrtem Essen. »Ihr bringt Euch um die letzten Reserven. Unvernünftig viel essen, das wäre momentan die beste Medizin.«
Wenn die Seele traurig war, war es auch der Körper. Es gab Menschen, die dann zu fressen begannen. Und es gab Katarina Tänzer. Dass sie einen Doctor hatte, der nach ihr sah und keine Scheu zeigen würde, ihr unangenehme Wahrheiten zu sagen, war ihr so klar wie Doctor Boff. Mit Hermine war sie verabredet, um ins Grüne zu fahren. Sie wollte dies nicht allein tun, weil sie dem Frieden nicht traute. Sie dachte darüber nach, einen Hund ins Haus zu holen. Zuletzt schüttelte Boff dem Ernährer der Geschwister die Hand.
»Wenn Ihr Bedarf
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