Doctor Boff - Weiberkranckheiten
Fähigkeit, wegzusehen. Ich nicht.«
Im Hintergrund entstand Gepolter. Lewerkühn kam herein, nass und verdreckt von den Stiefeln bis zum Scheitel.
Am Tisch stehend, fing er an, mit beiden Händen die Reste der Mahlzeit in sich hineinzustopfen. Jeder andere hätte gesagt, dass es regnete. Jeden anderen hätte der Wirt darauf hingewiesen, dass längst geschlossen sei. Alle warteten gespannt, denn Lewerkühn existierte nicht als privater Mensch. Er war immer im Auftrag unterwegs. Als der brüllende Hunger gestillt war, nannte er auch eine Zahl: »Vierzehn.«
Die Duplizität der Ereignisse war amüsant, wenn er auch kein Wort der Erklärung folgen ließ. Stattdessen ging er hinaus, um sein Pferd zu versorgen. So blieb es Boff vorbehalten, die offene Frage zu beantworten. In vierzehn Herrenhäusern und Schlössern der Umgebung würden morgen Heiler einziehen, um so schnell wie möglich damit zu beginnen, Kranke zu empfangen und zu behandeln.
»Wie macht der Kerl das?«, fragte der Mann vom Militär. »Kann er fliegen? Warum ist so einer nicht bei uns?«
Das hätte Boff ihm sagen können, denn Lewerkühn hatte sich ihm gegenüber über das Militär ausgelassen. Aber die Lage war ernst genug, er wollte sie nicht weiter zuspitzen.
»Warum sitzt eigentlich kein Mann der Kirche in unserer Runde?«, fragte der zweite Arzt. Er hatte sich bisher dermaßen bedeckt gehalten, dass für Boff der Verdacht fast schon bewiesen war, dass es sich um einen Spion handelte.
Der Professor wusste, dass seit den Gottesdiensten auch die Pastoren zusammensaßen. Nachdem dann noch auf den Tisch kam, dass der harte Kern der wohlhabenden Halleschen Kaufleute ebenfalls die Situation bedachte, kam man auf acht Gruppen der Bevölkerung, die in diesen Stunden darüber nachdachten, was passieren könnte und was getan werden musste, um das Schlimmste zu verhindern, wobei keine Einigkeit bestand, was man sich unter dem Schlimmsten konkret vorzustellen habe.
Der Heiler hatte gehört, dass ein Dorf im Süden der Stadt zwei leer stehende Bauernhöfe zur Verfügung gestellt hatte, damit dort heimatlos gewordene Heiler Unterschlupf finden konnten. Die Absicht war klar und wurde von den Dörflern auch nicht bestritten: Man versprach sich von dem zu erwartenden Menschenauflauf die Belebung der Geschäfte. Die beiden Bäcker hatten sich geeinigt, wer die Brote backen sollte und wer die Kuchen. Die Gasthäuser wollten neben den Bauernhöfen Zelte aufschlagen. Bauern hatten Pferdegespanne zugesagt, dieeinen Pendelverkehr zwischen Halle und den Höfen garantieren sollten. Selbst die Kräuterweiber aus dem Ort wollten sich nicht ausschließen und rodeten seit gestern in den umliegenden Wäldern alle Kräuter, die die Kraft besaßen, Beschwerden zu mildern.
46
Alles war klein: der Friedhof, die Kapelle, die Zahl der Trauergäste. Katarina Tänzer trat neben den Stadtphysicus und hakte sich bei ihm ein.
»So hätte er es gewollt, genau so. Kein Brimborium, keine Sonntagsgesichter, keine staatsmännischen Reden, die vielleicht sogar noch ehrlich gemeint sind. Nur zehn Menschen, von denen vier etwas über meinen Mann sagen, das von Herzen kommt, das nicht auf Wirkung bedacht ist. Nur Gefühl und Erinnerung und etwas Traurigkeit.«
Boff bedankte sich für die Ehre, an der Zeremonie teilnehmen zu dürfen. Freimütig gestand die Witwe, dass er praktisch zwei Einladungen erhalten habe: einmal wegen seines Amts – daran würde kein Weg vorbeiführen. Vor allem aber wegen seines Verhaltens in den Wochen nach dem Anschlag. »Man kann nicht jeden Menschen kennen, das weiß ich ja. Aber ich weiß auch, dass er Euch als ›Gewinn‹ bezeichnet hätte. So nannte er diejenigen, für die es sich lohnt, Zeit und offene Ohren zu haben. In den letzten Jahren hat er nicht mehr viel Lust auf die Menschen gehabt. Ihr hättet ihm bewiesen, dass beim Leben immer noch eine Trumpfkarte im Ärmel steckt.«
Sie beklagte sich nicht, dass ihr Mann in den Wirren der letzten Tage untergegangen war. »Eigentlich bin ich froh. Seine Beisetzung wäre zu einer politischen Veranstaltung geworden. Jeder hätte ihn als seinen Parteigänger bezeichnet, ob gelogen oder wahr. Wie soll man sich dagegen wehren? Auf einer Beisetzung! Ich als schwache Witwe!«
Sie lachte in sich hinein und drückte nun Rohwedders Hand. Tänzers Leichnam hatte die letzten Tage im Eiskeller der Fürstin Bengtsson verbracht.
»Ihr wisst doch, dass ein Leichnam bei mir in den besten Händen ist«, sagte Rohwedder
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