Doener, Machos und Migranten
Hassan den Leistungsanforderungen der Grundschule gerecht werden. Bereits nach der 3. Klasse wechselte er auf die Förderschule. Bei einem Elternhaus, das dem Kind klare Regeln vorgibt und es in schulischen Angelegenheiten unterstützt, hätte Hassan nicht die Förderschule besuchen müssen. Im Gegensatz zu zahlreichen anderen Kindern ist er intelligent genug für die Regelschule, zumal er Lerninhalte schnell auffasst. Aufgrund fehlender Übung fällt es ihm jedoch selbst in der 7. Klasse noch schwer, leichte bekannte Texte zu lesen. Ohne Hilfe gelingt es ihm nicht, den Sinn zu entschlüsseln. Durch seine Unfähigkeit, sich zu konzentrieren, gelingt ihm beispielsweise das Abschreiben eines Textes nur mit sehr vielen Fehlern. Immer wieder habe ich den Eindruck, dass Hassan nicht zur Ruhe kommt.
Dieser Eindruck wurde mir durch den Bericht eines Kollegen bestätigt. Eines Tages stattete der Klassenlehrer von Hassans Bruder Khalid der Familie einen Hausbesuch ab. Die Familie bewohnt zwei Wohnungen in einem Mehrfamilienhaus in Gelsenkirchen-Bismarck. Beide Wohnungen sind durch den Hausflur getrennt. Die Kinder teilen sich ihre Zimmer mit mehreren Geschwistern, wobei auf eine Trennung derGeschlechter geachtet wird. Sämtliche Kinderzimmer befinden sich in derselben Wohnung. Das Elternschlafzimmer, die Küche und das Wohnzimmer liegen auf der gegenüberliegenden Flurseite in der zweiten Wohnung.
Der Klassenlehrer wurde in ein barock eingerichtetes Wohnzimmer geführt. Dort versuchte er, mit den Eltern über die Verhaltensprobleme ihres Sohnes zu sprechen. Es blieb bei dem Versuch. Das Gespräch wurde ständig gestört, weil einige Kinder zwischen der einen und der anderen Wohnung hin- und herliefen. Permanent wurde die Wohnzimmertür aufgerissen und geschlossen. Andere Kinder saßen laut redend im Wohnzimmer. Sehr schnell wurde die Hierarchie innerhalb der Geschwisterkinder deutlich. Je älter sie waren, desto höher standen sie in der familiären Rangordnung. Kam ein älteres Geschwisterkind ins Wohnzimmer und wollte auf einem besetzten Platz sitzen, musste das jüngere den Platz räumen. Das geschah entweder freiwillig oder mit Hilfe von Boxhieben und Ohrfeigen.
Während des Besuchs versuchte die Mutter mittels hysterischem Anschreien und Ohrfeigen, die sie wahllos verteilte, für etwas Ruhe zu sorgen. Während die Eltern mit ihren Kindern ausschließlich arabisch sprechen, wechseln diese untereinander zwischen Arabisch und Deutsch. Doch auch nachdem halbwegs Ruhe herrschte, lief weiterhin der Fernseher, in dem das Programm eines arabischen Senders zu sehen war. Nach kurzer Zeit machten die Eltern deutlich, dass die Probleme ihres Sohnes in der Schule begründet seien. Zu Hause hätten sie sie nicht. Nach einer Dreiviertelstunde und zwei Gläsern Tee verabschiedete sich mein Kollege. Im Hausflur liefen die Kinder weiter von der einen Wohnung in die andere. Alle schienen ständig in Bewegung zu sein.
Im Unterricht schafft Hassan es nur ganz selten, Beiträge seiner Mitschüler unkommentiert zu lassen. Meist äfft er sie nach oder macht sich über sie lustig. In der Folge entstehen schnell verbale Auseinandersetzungen mitten im Unterricht. Glücklicherweise verfügt unsere Schule ja über einen Trainingsraum, der in solchen Situationen zunächst dazu dient, den Konflikt zu deeskalieren.
Eines Tages sorgte Hassan zum wiederholten Mal für eine massive Unterrichtsstörung. Ich beschrieb auf dem Laufzettel die Art seines Störverhaltens und schickte ihn zum Trainingsraum. Dort sollte er mit einem unbeteiligten Lehrer die Situation besprechen und einen Rückkehrplan erarbeiten. Sehr oft kommt es allerdings vor, dass sich zur gleichen Zeit mehrere Schüler aus unterschiedlichen Klassen in dem Raum befinden. So war es auch an jenem Tag. Einer von Hassans Brüdern, Ali, arbeitete bereits an seinem persönlichen «Plan zur Rückkehr», als Hassan seine Version von der ungerechten Behandlung durch die böse Frau Durmaz erzählte.
Nach einem intensiven Gespräch mit dem unbeteiligten Kollegen füllte Hassan einen Rückkehrplan aus und kehrte in die Klasse zurück. Nach der Stunde folgte eine Hofpause. Ich wollte gerade meine Schüler an der gewohnten Stelle des Schulhofes abholen, als Hassans großer Bruder Ali, der damals in die 10. Klasse ging und mindestens zwei Köpfe größer als ich war, auf mich zuschoss. In einem aggressiven Ton forderte er eine Erklärung, warum ich seinen Bruder in den Trainingsraum geschickt
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