Doener, Machos und Migranten
die Regelschule. Als Ibrahim im vierten Schuljahr zu uns auf die Förderschule kam, hatte er besondere Lernschwierigkeit im Lesen und Schreiben. Er konnte sich die Buchstaben nicht merken und war nicht in der Lage, sie zu einem Wort zusammenzusetzen. Kurz gesagt: Alle Fähigkeiten, die man zum Lesen braucht, fehlten ihm. Sein mündliches Sprachvermögen war hingegen sehr gut. Er verstand alle Anweisungen und verfügte über einen guten Wortschatz. Las ein anderes Kind einen Text vor, hatte Ibrahim den Sinn als einer der Ersten erfasst. Seine Stärken lagen eindeutig im mathematischen und handwerklichen Bereich, wo er zu den leistungsstärksten Schülern der Klasse zählte.
Nun könnte leicht der Eindruck entstehen, Ibrahim hätte eine Lese-Rechtschreibschwäche gehabt. Doch dem war nicht so. Er konnte lediglich nicht im Rahmen einer großen Grundschulklasse lernen. Die vielen Kinder und der größere Klassenverband waren seiner Konzentration und Aufmerksamkeit abträglich. Diese Fähigkeiten sind jedoch unabdingbar, wenn ein Schüler im Regelschulbereich erfolgreich sein will. So gibt es z.B. hochbegabte Kinder, die aufgrund mangelnder Konzentrationsfähigkeit die Förderschule für emotionale Entwicklung (ehemals Förderschule für erziehungsschwierige Kinder) besuchen.
Im Unterricht war Ibrahims Verhalten weiterhin durch extreme Albernheiten gekennzeichnet. Er amüsierte sich über nahezu jede Äußerung seiner Mitschüler, auch wenn daran nichts Lustiges war. Vor Lachen liefen ihm die Tränen über die Wangen. Erzählte beispielsweise ein Mitschüler von seiner neuen Freundin – womit er etwas sehr Intimes preisgab –, konnte Ibrahim sich vor lauter Lachen kaum einkriegen. Dabei erzeugte er eine Lautstärke, die eine Fortführung des Unterrichts unmöglich machte, zumal die anderen Jungen seinem Beispiel folgten. Ibrahim nahm in der Klassengemeinschaft eine starke Position ein. Für die anderen war er ein Sympathieträger, mit dem jeder befreundet sein wollte. Wohl jeder Lehrer kennt Schüler, über die er sich ärgert, denen er aber nicht wirklich böse sein kann. Zu dieser Kategorie gehörte auch Ibrahim. Natürlich rügte ich ihn, doch hatte er stets einen gewissen Kredit bei mir – was er vermutlich längst durchschaut hatte.
Nach vier Schuljahren gab ich die Klasse mit einem weinenden und einem lachenden Auge ab. Es war meine allererste Schulklasse gewesen, und ich hatte zu sehr vielen Schülern eine innige Beziehung aufgebaut. Dennoch hielt ich einen Lehrerwechsel nach vier Jahren für angebracht. Schließlich sollten die Schüler noch einen anderen Erziehungsstil als meinen kennen lernen. Zum Abschied veranstalteten wir in der Schule ein Grillfest, bei dem Ibrahim vor lauter Lachen die Würstchen anbrennen ließ. Am letzten Tag lud ich die gesamte Klasse zu mir nach Hause zu einem Frühstück ein. Hier konnte dann nicht wirklich etwas anbrennen.
Selbstverständlich blieb ich durch meine Kollegin über die Entwicklung meiner ehemaligen Schüler auf dem Laufenden. Ibrahim erreichte den Hauptschulabschluss an unsererFörderschule. Das heißt, Ibrahim bekam die Befähigung, den regulären Hauptschulabschluss nach Klasse 10 zu machen. Er hatte lediglich ein «mangelhaft» im Fach Deutsch. Immerhin konnte er inzwischen lesen, wenn auch nicht besonders gut. Das spielte aber nur eine untergeordnete Rolle, denn in allen anderen Fächern war er gut.
Als ehemalige Klassenlehrerin wurde ich zur Abschlussfeier eingeladen. Ich freute mich über die vielen positiven Entwicklungen, die auch mein Schüler Ibrahim gemacht hatte. Erneut sprach er mich auf gewisse Automarken an, über die ich mittlerweile etwas besser informiert war. Er versprach, dass er mich mit einem getunten Auto zu einer Spritztour abholen wolle, sobald er seinen Führerschein habe. Er hatte sich genau gemerkt, wo ich wohne. Da ich in einem Wohnviertel bzw. einer Straße mit vielen Akademikern wohne, bat ich ihn, dann laut vor meinem Fenster zu hupen. Meine deutschen akademischen Nachbarn dürfen ruhig an diesem Ereignis teilhaben.
Auch nach dem Abgang besuchte Ibrahim öfters seine alte Schule. Inzwischen arbeitet er bei einer Montagefirma, wo er – O-Ton – «gut Kohle» verdienen würde und nun kräftig für sein Traumauto spare. Das Modell hat er mir noch nicht verraten, aber ich werde es hoffentlich demnächst hören und sehen.
11. Schulschwänzer unter sich – Janice
Nachdem Janice aus Gladbeck nach Gelsenkirchen gezogen war, kam
Weitere Kostenlose Bücher