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Dog Boy

Dog Boy

Titel: Dog Boy Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Hornung
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größten Verzweiflung dachte er, das Problem der vernachlässigten Kinder sei für ihn allein einfach eine Nummer zu groß: Unvorstellbar viele von ihnen starben auf der Straße oder wurden missbraucht; oder sie wurden durch die Entbehrungen, die sie zu Hause erdulden mussten, körperlich, seelisch und geistig verkrüppelt.
     
    Oft war er furchtbar wütend auf Natalja. Im Moment gab sie den Kindern im Keller gerade Turnunterricht und formte das Leben der Kleinen nach ihrem Vorbild. Sie freute sich über jedes Kind, das sie gerettet hatten, und weigerte sich, an die Zurückgelassenen zu denken. Erstaunlicherweise konnte sie diese Dinge einfach ausblenden. So gab es zwischen der Metro und der Universität mittlerweile keine Madonnenmütter mehr: Natalja hatte jede einzelne von ihnen gemeldet. Immer wenn sie eine dieser Frauen sah, verständigte sie die milizia , auch wenn sie deshalb zu spät zueiner Besprechung oder einer Verabredung im Restaurant kam. Sie betrachtete die ausgestreckten Hände und schmutzigen Lumpen dieser Frauen, ja sogar die schwächlichen, vor Kälte blauen Babys, die sie im Arm hielten, als hätten sie nichts mit ihr, Natalja, zu tun, als seien sie eine Beleidigung für die Menschheit. Und sie handelte. Doch Dimitri war überzeugt, dass sie ansonsten keinen weiteren Gedanken an sie verschwendete. Einmal hatte er ihr gegenüber bemerkt, dass die Babys manchmal verhungerten oder wegen nicht gewechselter Windeln an Wundbrand stürben, hatte über den Zusammenhang zwischen verschiedenen Formen der Verdorbenheit und dem Rückgang von Muttergefühlen sinniert.
    Aber Natalja hatte ihn schroff zurechtgewiesen: »Werd nicht philosophisch, Dimitri. Das steht dir nicht zu. Du hast das Kind nicht gezeugt und die Mutter nicht verdorben.« Da war sein Herz ganz plötzlich von all den Dingen überflutet worden, die er ihr sagen wollte. Was, wenn meine Mutter so eine war? Aber in diesem Moment hatte sich Natalja, die direkt vor ihm über die Pjatnitskaja ging, zu ihm umgedreht und ihn so lebhaft und liebevoll angeschaut, dass sich seine Gedanken zerstreuten und er nach ihrer Hand griff. Sobald er in die Nähe dieses Feuers trat, sehnte er sich nur noch nach seiner Wärme.
    Natalja war überrascht, wenn jemand anderer Meinung war als sie, doch sie ließ sich nicht beirren, egal, wie überzeugend die Kritik ihres Gegenübers sein mochte. Dimitri hatte einmal all seinen Mut zusammengenommen und ihr vorgeworfen, sie könne keinen Irrtum eingestehen. Darauf hatte sie lachend »Blödsinn!« gesagt und ungerührt weitergemacht. Eigentlich sind Dummheit und Arroganz eine schreckliche Kombination von Wesenszügen, sagte sich Dimitri.
     
    Natalja dehnte Hals und Schultern, während sich die Kinder mechanisch bedankten und im Gänsemarsch hinausgingen. Sie hatte von Anfang an auf dieses Ritual bestanden, und ihre ungekünstelten, rauen Stimmen gefielen ihr. Ihr steifer Körper nach dem Turnen ließ sie ihr Alter spüren, und dennoch fühlte sie sich jung. Turner mochten mit zweiunddreißig schon alt sein, doch für Kinderärzte war das noch äußerst jung. Ihre Körperbeherrschung war noch immer beeindruckend, und warum sollten die Kinder daraus keinen Nutzen ziehen? Dimitri – tja, wenn diese Kinder so ernährt, erzogen und unterrichtet wurden, dass es im Wesentlichen den allgemeinen Maßstäben für Kinder entsprach, die von ihren Eltern großgezogen wurden, dann genügte das Dimitri voll und ganz.
    Natalja hob die Arme, beugte sich in der Taille nach vorn und legte die Handflächen auf den Boden, um ihren Ärger in andere Bahnen zu lenken. Sie schmiegte den Kopf an die Schienbeine und verwandelte sich in ein seltsames, vierfüßiges, schmales Wesen, dessen Haar sich wie ein Schwanz vom Hinterkopf bis zum Boden ergoss. Dann streckte sie erst ein Bein und dann das andere senkrecht nach oben in einen kontrollierten Handstand. Einen Moment sah sie aus wie eine umgedrehte Statue, dann ließ sie sich in einer einzigen flüssigen Bewegung auf den Boden sinken, rollte über den Halbmond ihrer Wirbelsäule ab und stand auf.
    Er war in dieser Sache völlig untätig! Sie hatte die Geräte in diesem hässlichen Keller zusammenbetteln müssen, während das Waisenkind Dimitri insgeheim und missbilligend über die Weltanschauung und die Ansichten spottete, die ihre eigene Kindheit ihr mitgegeben hatte. Er hatte einmal gesagt, sie sei mit allen Vorteilen eines mit Begabung und elterlicher Liebe verwöhnten Kindes aufgewachsen,als

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