Dog Boy
beobachten, könnte einiges erklären und fruchtbar für die Forschung sein. Dennoch gefiel ihm das Ganze nicht, und er wünschte sich, Romotschka möge verschwinden. Er seufzte. Nein, er kannte sich. Dieser Wunsch war ein Hirngespinst, kein ernsthaftes Bestreben. Durch Romotschka sah er manches, was er lieber nicht gesehen hätte. Doch da er es nun einmal gesehen hatte, gab es kein Zurück mehr. Marko gehörte zu jemand anderem, damit gehörte er auch jemand anderem; und Dimitri hatte ihn ganz für sich gewollt.
Nataljas tätschelnde Hand riss ihn aus seinen Träumereien, sie schlüpfte unter ihm hervor und legte sorgfältig zwei Kissen an die Stelle, an der sie gelegen hatte. Dann huschte sie davon, höchstwahrscheinlich unter die Dusche und danach ins Bett.
Dimitri legte die Füße aufs Sofa, nippte an seinem Whisky und dachte noch einmal über seinen Tag nach. Aus heiterem Himmel ein menschlicher Verwandter. Unbestreitbar. Er strich über das straffe Gelb des Sofas. Gutes Leder hatte etwas: Es war seidig und zugleich rau. Das Sofa war sein einziges teures Möbelstück, ein modernes 8 Marta, das er wegen eines Fabrikationsfehlers günstiger bekommen hatte. Das Dottergelb des Sofas erfüllte ihn mit einer merkwürdigen, leisen Freude; als wäre auch das ein Meilenstein in seinem erfolgreichen Leben. Wieder seufzte er. Romotschka und Marko waren beide abnorm, das musste man bei jeglicher Forschung berücksichtigen. Letztlich würden sie sich als gewöhnliche Abweichungen erweisen, keineswegs als Neuland. Nichts, woraus man etwas über die Menschheit im Allgemeinen lernen konnte: nur der übliche Morast individuellen Leids.
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Romotschka beschloss, lieber den ganzen Weg zu laufen, als mit der Metro zu fahren, und Weiße Schwester sprang in großen Sätzen neben ihm her. Ihn verlangte nach dem Gesang seines Blutes und seiner Muskeln, nach der durch seinen Körper spülenden Luft und der Erschöpfung am Ende des Wegs. Er rannte immer weiter, eine Strecke entlang, die er inzwischen so gut kannte, dass die kleinen Umwege oder Abkürzungen kein Nachdenken erforderten. Es regnete in Strömen, und beim Laufen spritzte das Wasser auf. Dabei wirbelten ihm die Dinge in Welpes Zimmer im Kopf herum: die weiche gemusterte Matte, die wie der Rahmen eines Autofensters roch; die steifen bunten Tiere; die roten, gelben und blauen Formen, alle sauber und nicht angekaut; die glatten hellgelben Wände und das blasse Fensterglas. Der Geruch von Dimitri. Nataljas Stimme. Er wollte so schnell wie möglich nach Hause.
Doch schon am nächsten Tag zog es ihn wieder dorthin zurück.
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Dimitri, Natalja und Anna Alexandrowna gewöhnten sich daran, dass Romotschka unangekündigt am Empfang auftauchte, und betteten seine Besuche in Welpes Wiedereingliederungsprogramm ein. Anna Alexandrowna erhielt die Anweisung, Natalja in der Klinik zu verständigen, sobald Romotschka auftauchte, woraufhin diese ihre Arbeit mit dem anwesenden Kind beendete und alle Termine in den nächsten Stunden absagte. Natalja legte aus eigenem Interesse ein Beobachtungstagebuch an, während Dimitri seine bisherigen Erkenntnisse für die Zeitschrift für Fortschritte in der Neuropsychologie ausarbeitete.
Sie fand den älteren Jungen faszinierend und zugleich erschreckend; und wie in jedem bomsch sah sie auch in ihm ein Armutszeugnis für diese Gesellschaft, eine wandelnde menschliche Tragödie. Natalja hatte ein paar feste Grundsätze. In einem Wagen der Metro hatte sie sich einmal als Einzige zu einem großen stinkenden Fettkloß gesetzt, der auf dem gegenüberliegenden Sitz schlief. Sie hatte flach atmend dagesessen und, den Tränen nahe, ihre aufsteigende Übelkeit zurückgedrängt. Dieser Mann ist Russe , hatte sie sich gesagt. Dieser Mann ist mein Bruder .
Zunächst hatte sie bei Romotschka ein ähnliches Gefühl gehabt – doch mit der Zeit hatte sich die Schockwirkung seiner äußeren Erscheinung und seines Geruchs irgendwie verloren, und ihr Widerwille hatte nachgelassen. Romotschka war als Versuchsperson einfach unwiderstehlich, eine starke Persönlichkeit. Sein Äußeres, sagte sie sich irgendwann, war kein zuverlässiger Hinweis auf das, was tatsächlich in diesem Jungen steckte; es hatte eher etwas Theatralisches. Wie eine Verkleidung, ein unbeabsichtigter Schmuck.
Heute ist der 17. Juli, die zweite Woche, in der ich Romotschka und Marko beobachte. Was soll man nur von den beiden Jungen halten? Romotschka, dunkel und feurig wie ein
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