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Dog Boy

Dog Boy

Titel: Dog Boy Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Hornung
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Schmelzofen. Der kindliche Krieger, mit seinem abstehenden schwarzen Haar und seiner Schwermut. Marko dagegen, so hell, blass und zerbrechlich: eine Schneeflocke, die in einer passiven, ja rührenden Liebe zu dem düsteren Bruder zerrinnt. Romotschka wirkt unverwüstlich. Er hat ganz entsetzliche Fingernägel – Krallen wäre ein treffenderes Wort – und sieht aus wie der Überlebende eines nuklearen Holocaust in einem amerikanischen Film (im passenden Kostüm). Marko wirkt eher, als könnte er auf genauso rätselhafte Weise verschwinden, wie er gekommen ist, als wäre er irgendwie durchsichtig – nicht ganz hier. Sein Gesundheitszustand ist inzwischen gut, doch körperliche Gesundheit ist nicht alles, was uns am Leben erhält oder uns sterben lässt, wie wir Ärzte wissen (wissen sollten). Was für ein Anblick die beiden sind. Auf einem Gemälde würden sie aussehen wie Archetypen. Komisch!
     
    18. Juli. Ein heißer, schwüler Tag, der zu Romotschkas Stimmung passt. Romotschka weist Gemeinsamkeiten mit professionellen Bettelkindern auf. Er ist unergründlich und unnahbar, doch ich glaube, ich verstehe ihn inzwischen ganz gut. Wir haben ihm nur wenig zu bieten: Wir können ihm etwas zu essen geben, aber er ist zu gerissen und zu erfahren, um sich mit jemandem anzufreunden. Ich habe sowieso weder Mitleid mit ihm, noch will ichihn retten. Obwohl ich überzeugt bin, dass er intelligent ist – trotz seiner Auffälligkeiten. Seine Körpersprache, sein Verhalten, alles ist ein klitzekleines bisschen neben der Spur, was jeder normale Mensch sofort erkennt. Vielleicht hält mich seine Selbstachtung davon ab, Mitleid zu empfinden. Er mag sich. Und sieht keinen Grund, warum wir ihn nicht auch mögen sollten. Nein, das ist nicht das richtige Wort – bewundern trifft es eher. Außerdem ist es beunruhigend – verhaltensauffällige Kinder mit einem solch selbstsicheren Auftreten findet normalerweise niemand besonders ansprechend, außer ihren Müttern, und das auch nur dann, wenn sie selbst nicht hoffnungslos beeinträchtigt sind. Marko ist das Opfer, das wir alle retten müssen. Romotschka ist etwas viel Romantischeres, Schrecklicheres. Er ist stolz auf diese höllischen Krallen. Er benutzt sie für alles Mögliche, zum Beispiel, um anderen Kindern Angst einzujagen – und ich habe gesehen, wie er sie vorsichtig an den Ziegelsteinen der Parkmauer abgeschliffen hat. Ich sollte ihm eine Nagelfeile schenken, damit er seine Maniküre stilvoll betreiben kann! Denn er ist eitel!
     
    28. Juli. Inzwischen spricht Romotschka immer häufiger, mit uns und mit Marko. Er redet auch mit Dimitri, aber anscheinend deutlich zurückhaltender als mit mir. Auf eine bizarre Art ist er ziemlich redegewandt. Heute früh sagte er mit seinem seltsamen Stimmchen zu mir: »Ich kann dir einen Vogel besorgen. Heute ist sonnig, es ist nicht einfach, aber ich kann dir einen Vogel besorgen.« Das ist der längste Satz, den ich bisher aus seinem Mund gehört habe. Schade, dass ich mich mit dem Spracherwerb nicht besonders gut auskenne. Aber Dimitri kennt sich da aus. Er meint, in Romotschkas Fall handelt es sich um eine Geistes- oder Sprachstörung, doch ich bin davon nicht überzeugt. Dimitri vertraut nicht auf Intuition – immer nur auf seine Daten. Ich muss ihm diese Sequenz mal vorführen. Der Junge ist kein Schwachsinniger, da würde ich jede Wette eingehen. Es ist etwas anderes. Seine Intonation ist dürftig und flach, dennoch spricht er lebhaft und elliptisch. Manchmal ist seine Sprache anschaulich und ziemlich örtlich geprägt. Als ich ihm letztens etwas in der Mikrowelle aufgewärmt habe, fiel mir ein Teller hin, und da machte er die kluge, sehr witzige Bemerkung: »Bis auf ein bisschen Pisse ist die Welt voller Scheiße.« Er klang fast wie ein kleiner alter, betrunkener muschik . Als ich lachen musste, grinste er einen flüchtigen Augenblick albern. Er wollte mir imponieren. Manchmal klingt er auch wie ein Migrant, für den Russisch nur die zweite Sprache ist. Er verwendet das, was er hört, und schustert sich damit seine Sätze zusammen. Heute hat er ein paar Sachen gesagt, die ganz nach Dimitri klangen: »Was genau soll das eigentlich bedeuten?« oder »das menschliche Tier«. Auch das werde ich Dimitri vorführen – da möchte ich mal sehen, ob er es als Echolalie bezeichnen will! Und irgendwo hat er sogar ein paar Brocken Italienisch aufgeschnappt. Bei Marko benutzt er italienische Kosenamen oder ein seltsames Sprachengemisch. Als er

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