Dogma
hin.
Tess’ Gedanken überschlugen sich. Dieser Mann schien ihren Fund gar nicht besonders aufregend zu finden. Sie fragte sich, ob sie versuchen sollte, ihm die Bedeutung klarzumachen, entschied sich jedoch dagegen. Stattdessen kniete sie sich wortlos wieder in das Grab und durchsuchte weiter die Erde.
Es war nichts mehr darin vergraben.
Schließlich sah sie den Iraner an.
Er schien unzufrieden. «Uns muss irgendwas entgangen sein.»
Jetzt konnte Tess ihre Empörung nicht mehr zurückhalten. «Was soll uns entgangen sein?», stieß sie wütend hervor. «Das war alles. Wir haben getan, was wir konnten. Ich meine, verdammt, wir haben dieses Grab gefunden. Wir haben diese Schriften gefunden, und was auch immer darin steht – das ist ein unglaublicher Fund! Diese Evangelien … die sind einzigartig. Und dieser Mann, Hosius … Er war unter Kaiser Konstantin oberster Priester. Er war Zeuge, als Konstantin sich zum Christentum bekehrte. Verdammt, er war beim Konzil von Nicäa, als all die Streitigkeiten um die Werke und das wahre Wesen Jesu ausgetragen wurden. Das war die Geburtsstunde des Christentums, wie wir es heute kennen. Damals wurde das Glaubensbekenntnis formuliert, das die Kirchgänger noch heute jeden Sonntag sprechen. Dieser Brief kann uns unglaublich viel darüber verraten, wie es wirklich dazu kam. Was wollen Sie denn noch? Was zum Teufel tun wir hier überhaupt? Was glauben Sie, was Sie noch finden könnten?»
Der Iraner lächelte. «Das ‹Werk des Teufels› selbstverständlich. Und zwar das ganze, das vollständige.»
«Es gibt kein ‹Werk des Teufels›. Das hier sind alte Evangelien.» Noch während Tess die Worte aussprach, sprang ihr aus dem Staub und der Dunkelheit die Ahnung entgegen, was der Iraner vorhatte. Sie verzog das Gesicht.
«Sie verstehen wohl immer noch nicht?», sagte er spöttisch. «Diese Schriften und was immer die Templer sonst noch bei sich hatten, hat die Mönche so in Angst und Schrecken versetzt, dass sie Morde auf sich genommen haben, um sie geheim zu halten. Und als ihnen die Sachen abgenommen wurden, haben sie Selbstmord begangen. Das sind nicht einfach nur Evangelien. Für diese Leute
ist
es das Werk des Teufels. Sie sagen, es könne ihre Welt in den Grundfesten erschüttern – ihre
christliche
Welt.» Und nach einer Pause setzte er mit Betonung hinzu: «
Eure
Welt.»
«Und darum sind Sie so sehr darauf aus?»
Er grinste. «Natürlich. Eure Welt beginnt bereits zu bröckeln. Ich denke, diese Dinge könnten zu der Abwärtsspirale beitragen. Gerade nach all diesen Missbrauchsskandalen, die der Vatikan so emsig unter den Teppich gekehrt hat – es könnte gar keinen günstigeren Zeitpunkt geben.»
Tess lief ein kalter Schauder den Nacken hinunter, aber sie wollte sich nichts anmerken lassen. «Denken Sie etwa, Sie könnten Menschen so leicht in ihrem Glauben erschüttern?»
«Ganz bestimmt», erwiderte der Iraner schulterzuckend. «Ich denke, Ihre Glaubensgenossen sind religiöser, als Sie es ihnen zutrauen. Und das macht sie nur noch angreifbarer.»
«Ich weiß, wie religiös viele von uns sind. Ich glaube nur nicht, dass sie solchen Wert auf das Kleingedruckte legen.»
«Vielleicht nicht alle, aber viele. Genug, um echte Probleme heraufzubeschwören. Das reicht mir schon. Denn darum geht es im Grunde, und das ist es, was Leute wie Sie nicht verstehen. Diese Schlacht, dieser Krieg zwischen uns … dieses ‹Aufeinanderprallen der Zivilisationen›, wie Sie es so gern nennen. Das ist ein langfristiger Kampf. Es geht nicht darum, wer die besseren Waffen hat. Es geht nicht darum, einen einzigen gewaltigen, tödlichen Schlag zu landen. Sondern es geht darum, den Gegner zu zermürben. Den Körper langsam zu töten, mit vielen kleinen, wohlgezielten Schlägen. Gnadenlos jede Gelegenheit zu nutzen, die Seele aufzureiben. Und im Augenblick ist euer Land in schlechter Verfassung. Eure Wirtschaft ist am Boden. Eure Umwelt ist in schlimmem Zustand. Keiner traut mehr euren Politikern oder euren Bankern. Ihr verliert eure Kriege. Ihr seid gespaltener denn je, und ihr seid moralisch bankrott. Ihr seid in jeder Hinsicht am Boden. Und jeder Schlag, jeder Kinnhaken, der dazu beitragen kann, euch noch tiefer in die Knie zu zwingen, ist die Anstrengung wert. Erst recht, wenn es um Religion geht, denn ihr seid alle religiös. Alle. Nicht nur die Kirchgänger. Ihr seid sogar religiöser als wir.»
«Das bezweifle ich», entgegnete Tess spöttisch.
«Aber natürlich seid
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