Dogma
breitete sich ein kaltes, leeres Gefühl aus, Wut und Reue darüber, dass sie New York verlassen hatte und hierher in die jordanische Wüste gekommen war vor all den Wochen, um für ihren neuen Roman zu recherchieren. Damals hatte sie das für eine gute Idee gehalten – die sommerliche Ausgrabung mit Simmons, einem Bekannten ihres alten Freundes Clive Edmondson, der zu den führenden Experten für die Templer gehörte. Draußen in der Wüste würde sie Gelegenheit haben, sich mit ihm auszutauschen und ihr Wissen über die Templer zu erweitern, das die Grundlage ihrer neuen Karriere war. Und nebenbei, wenn das nicht sogar im Vordergrund stand, hätte sie den Freiraum, den sie brauchte, um sich über einige Dinge in ihrem Privatleben klarzuwerden.
Und jetzt das.
Ihre Reue fand immer weitere dunkle Bereiche, und plötzlich stand ihr ein neues Bild vor Augen: Reilly. Sie fühlte sich ganz elend vor Schuldgefühlen, als sie sich fragte, in was sie ihn da durch ihren Anruf hineingezogen hatte, ob auch ihm jetzt Gefahr drohte – und ob er sie jemals finden würde. Der Gedanke erzeugte einen Hoffnungsfunken. Sie wollte glauben, dass er ihr zu Hilfe käme. Aber ebenso rasch erlosch der Funke wieder. Sie machte sich selbst etwas vor. Er war Kontinente weit entfernt. Selbst wenn er es versuchte – und sie wusste, das würde er –, wäre er hier nicht in seinem gewohnten Umfeld, sondern ein Fremder in einem fremden Land. Dazu würde es nicht kommen.
Ich kann nicht glauben, dass ich so sterben soll.
Ein schwaches Geräusch drang in ihr Bewusstsein, gedämpft wie alle Geräusche, wie um sie nur noch mehr zu quälen. Sie erkannte, dass es eine Sirene war. Ein Polizeifahrzeug oder ein Krankenwagen. Das Geräusch kam näher, ihre Hoffnungen stiegen, doch dann entfernte es sich wieder. Aber etwas daran machte sie stutzig. Es war ein charakteristisches Geräusch, anscheinend hatte jedes Land ganz eigene Sirenen an Polizei- und Rettungsfahrzeugen. Und etwas an dieser Sirene stimmte nicht. Sie war sich nicht ganz sicher, sie hatte während ihres Aufenthalts in Jordanien durchaus Krankenwagen- und Polizeisirenen gehört, aber diese klang anders. Deutlich anders.
Es war ein Geräusch, das sie schon einmal gehört hatte, ganz sicher aber nicht in Jordanien.
Wieder überkam sie Angst. Wo zum Teufel bin ich?
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Kapitel Vier
Archiv der Inquisition – Vatikan
«Wie lange haben wir noch?», fragte der iranische Historiker, während er einen dicken, ledergebundenen Kodex auf dem bereits vorhandenen Stapel zu seinen Füßen ablegte.
Reilly warf einen Blick auf die Uhr und runzelte die Stirn. «Das kann man nie genau bestimmen. Ab jetzt könnte er jederzeit zu sich kommen.»
Behrouz nickte, Schweißperlen auf der Stirn. «Nur noch ein Regal.» Er rückte seine Brille zurecht, zog einen weiteren Packen Foliobände aus dem Regal und band hastig den Lederriemen auf, der die Bücher zusammenhielt.
«Und Sie sind sicher, dass es hier sein muss?» Reilly sah hektisch in Richtung des bewusstlosen Priesters und des Eingangs. Abgesehen vom monotonen Summen der Klimaanlage, war alles still. Noch.
«Das jedenfalls hat Simmons gesagt. Er war vollkommen überzeugt davon. Es muss hier irgendwo sein.» Der Professor legte auch diese Foliobände ab und griff nach dem nächsten Packen.
Die Templer-Akten nahmen drei ganze Regale nahe der Rückwand des Saals ein und stellten damit die umgebenden
fondi
in den Schatten. Kein Wunder, war die Affäre doch der größte politische und religiöse Skandal der damaligen Zeit gewesen. Diverse päpstliche Kommissionen und eine kleine Armee von Inquisitoren waren auf den Orden angesetzt worden, von der Zeit vor dem Erlass der Haftbefehle im Herbst 1307 bis zur endgültigen Zerschlagung des Ordens im Jahr 1312 und der Verbrennung des letzten Großmeisters 1314. Auch wenn das Archiv des Templerordens selbst verschollen war – es sollte sich zuletzt auf Zypern befunden haben, wohin es nach dem Fall von Akkon im Jahre 1291 gebracht worden war –, der Vatikan hatte im Zuge seiner Ermittlungen umfangreiches eigenes Material zusammengetragen. Berichte reisender Inquisitoren, Mitschriften von Verhören und Geständnissen, Zeugenaussagen, Protokolle von Beratungen mit dem Papst, Aufstellungen von Besitztümern und konfiszierte Unterlagen aus Templerburgen in ganz Europa – es war alles da, ein erschöpfender forensischer Bericht über das schändliche Ende der Kriegermönche.
Und wie es
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