Dogma
Tag würden sie die Heimreise antreten – mit leeren Händen. Daran führte kein Weg vorbei. Sie küssten sich und hielten einander in der Geborgenheit ihres dunklen Zimmers lange schweigend in den Armen, dann zog Reilly sein Handy hervor und wählte Aparos Mobilnummer. Tess trat ans Fenster und blickte gedankenverloren hinaus. Die Stadt schlief, die Straße unten war menschenleer. Eine einzelne Laterne stand links vom Hoteleingang Wache und beschien den rissigen Asphalt des Gehwegs mit gelblichem Licht. Das einzig Lebendige waren drei streunende Katzen, die zwischen parkenden Autos nach Fressbarem suchten.
Während Tess geistesabwesend den Blick schweifen ließ, dachte sie daran, wie sie zuletzt vor dem Patriarchensitz in Istanbul welche gesehen hatte, kurz nachdem sie erfahren hatte, dass Katzen in der Türkei als Glücksbringer verehrt wurden. Bei der Erinnerung überlief sie ein Schauder. Dort hatten sie ihnen wahrhaftig kein Glück gebracht. Tess blickte über die Baumwipfel und Hausdächer hinweg und stellte sich für einen Moment vor, wie es wäre, allein durch die Stadt zu streifen, ohne Reilly an ihrer Seite. Es war kein sehr beruhigender Gedanke. Der Iraner war noch immer irgendwo dort draußen. Und er war wütend. Nein, Reilly hatte recht. Sie konnte nicht bleiben. Das wäre unvernünftig, und sie musste jetzt unbedingt vernünftig sein. Schließlich warteten zu Hause ihre Tochter und ihre Mutter auf sie.
Sie wollte sich gerade abwenden und wieder zu Reilly gehen, da glitt ihr Blick noch einmal zu den Katzen. Sie huschten gerade um eine Häuserecke in eine dunkle Seitengasse – an einer einsamen Gestalt vorbei, die dort stand.
Einer einsamen Gestalt, die in Tess‘ Richtung schaute.
Tess erstarrte. Die Silhouette kam ihr irgendwie bekannt vor. Sie strengte ihre Augen an, versuchte, Näheres zu erkennen.
Es war ein junges Mädchen.
Nicht irgendein junges Mädchen.
Das Mädchen aus dem Keramikladen.
Sie rührte sich nicht, stand einfach nur da im Schatten und beobachtete das Hotel. Trotz der Dunkelheit konnte Tess das Weiß in ihren Augen erkennen, zwei winzige Lichtpunkte in der einsamen Nacht.
Ihre Blicke trafen sich. Tess fühlte es wie einen elektrischen Schlag. Das Mädchen schien ebenfalls etwas zu spüren, denn es drehte sich abrupt um und verschwand hastig in der Seitengasse.
Tess lief zur Tür. «Da draußen ist das Mädchen aus dem Laden, sie beobachtet uns», rief sie Reilly zu und stürmte hinaus.
Sie rannte die Treppe hinunter, hinaus auf die Straße und von dort in die Seitengasse hinein. Reilly folgte ihr dichtauf. Von dem Mädchen keine Spur. Tess rannte, bis sie eine Kreuzung mit einer schmalen Straße erreichte. Sie schaute nach rechts und links – kein Mensch war zu sehen.
«Wo zum Teufel ist sie geblieben? Sie kann doch noch nicht weit gekommen sein», stieß sie hervor.
«Bist du sicher, dass sie es war?»
«Völlig sicher. Sie hat genau in meine Richtung geschaut, Sean. Sie muss uns auf dem Rückweg hierher gefolgt sein. Aber warum?» Dann fiel ihr etwas ein. «Shit. Die Bücher. Sie sind in meinem Rucksack.»
Sie wollte kehrtmachen und zum Hotel laufen, aber Reilly hielt sie am Arm zurück und zeigte ihr den Rucksack, den er über der Schulter trug. «Keine Panik. Hier ist er.» Der Rucksack war das einzige Gepäckstück, das sie nach Konya mitgebracht hatten. Darin befanden sich nicht nur die beiden Kodizes, sondern auch Reillys Pistole.
Tess stieß erleichtert die Luft aus. «Denkst du, sie sind darauf aus? Denkst du, sie hat uns ausspioniert, um sie zu stehlen?»
«Ich weiß nicht. Möglich.» Reilly versuchte sich zu orientieren. Dann zeigte er nach rechts. «Der Laden ist in dieser Richtung. Vielleicht ist sie dahin gelaufen.»
Tess überlegte kurz, dann nickte sie. «Klingt logisch. Lass uns hingehen.»
«Warum?»
«Ich will wissen, was zum Teufel sie hier zu suchen hatte.»
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Kapitel Fünfundfünfzig
Den Laden wiederzufinden erwies sich als gar nicht so einfach. Das alte Stadtviertel bestand aus einem verwirrenden Labyrinth enger Straßen und Gassen, die nur von wenigen Laternen beleuchtet wurden. Als Tess und Reilly endlich ihr Ziel erreichten, war der Laden verschlossen und drinnen alles dunkel.
Tess ging schnurstracks darauf zu und schlug mit der flachen Hand gegen die Aluminiumrollläden. «Hey», rief sie laut. «Aufmachen. Ich weiß, dass ihr dadrin seid.»
Reilly hielt sie zurück. «Du weckst die ganze Nachbarschaft
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