Dogma
auf.»
«Mir doch egal», entgegnete sie aufgebracht. «Vielleicht ist es höchste Zeit, dass die Nachbarn von den Machenschaften dieser Leute erfahren.» Sie schlug wieder gegen die Rollläden. «Machen Sie auf. Anders werden Sie mich nicht los.»
Reilly wollte gerade erneut eingreifen, als durch die Schlitze eines Holzrollladens in einem Fenster über dem Laden Licht sichtbar wurde. Sekunden später öffnete sich der Rollladen quietschend, und der Ladenbesitzer streckte den Kopf heraus.
«Was tun Sie hier?», fragte er. «Was wollen Sie?»
«Ich will mit Ihrer Tochter sprechen», antwortete Tess.
«Mit meiner Tochter?», wiederholte der Ladenbesitzer verblüfft. «Jetzt? Warum denn?»
«Sagen Sie ihr einfach, dass ich hier bin», entgegnete Tess. «Sie weiß schon Bescheid.»
«Hören Sie, ich weiß wirklich nicht, was Sie sich –»
In diesem Moment ertönte aus einer engen Gasse neben dem Laden eine Stimme, die ihm ins Wort fiel.
«Yatağına dön.»
Die alte Frau trat aus dem Schatten, rief ihrem Sohn energisch etwas zu und bedeutete ihm mit heftigen Gesten, sich zurückzuziehen.
«Yatağına dön»,
wiederholte sie.
«Bunu halledebiliriz.»
Sie sah ihn an, er nickte und ließ widerstrebend den Rollladen wieder herunter.
Die Frau wandte sich Tess zu und musterte sie wortlos, aber die Anspannung in ihrem Gesicht war selbst im Schein einer einzelnen, einige Meter entfernten Straßenlaterne unverkennbar. Als sie zur Seite trat, sah Tess das junge Mädchen, das hinter ihr gestanden hatte.
«Was hatte sie vor unserem Hotel zu suchen?», fragte Tess, deren Körper ebenfalls vor Anspannung kribbelte.
«Leise», zischte die alte Frau. «Sie wecken noch die Nachbarn.» Sie sagte hastig einen Satz auf Türkisch, woraufhin das Mädchen verschwand.
«He», rief Tess und machte einen Schritt in ihre Richtung. «Wo will sie hin?»
«Das Mädchen hat nichts Unrechtes getan», entgegnete die Frau. «Sie sollten jetzt gehen.»
«Gehen? Den Teufel werde ich. Ich will wissen, warum sie uns zum Hotel gefolgt ist. Oder vielleicht sollten wir den Vorfall einfach der Polizei melden, vielleicht erzählt sie es lieber der Polizei.»
Die alte Frau zuckte zusammen. «Nein. Keine Polizei.»
Tess hob die geöffneten Hände und sah die alte Frau fragend an.
Nun?
Die alte Frau runzelte die Stirn. Ihr war anzusehen, dass etwas sie quälte. «Bitte gehen Sie.»
Etwas an der Art, wie sie das sagte, lenkte Tess’ Gedanken in eine neue Richtung. Sie war so darauf bedacht gewesen, die Kodizes zu schützen, dass sie die andere Möglichkeit gar nicht in Betracht gezogen hatte.
Ihr Ton wurde sanfter, und sie trat näher an die alte Frau heran. «Wissen Sie etwas über diese Bücher?»
«Nein, natürlich nicht.»
Die überschnelle Erwiderung war alles andere als überzeugend.
«Bitte», drängte Tess. «Falls doch … müssen Sie eines wissen. Es sind noch andere hinter diesen Büchern her. Mörder. Sie haben auf der Suche danach bereits viele Menschen getötet. Und so, wie wir Sie gefunden haben, können die Sie auch finden. Wenn Sie irgendetwas über die Bücher wissen, sollten Sie es uns sagen. Sie bringen sich sonst selbst in Gefahr.»
Die Frau musterte Tess mit zusammengepressten Lippen, die Stirn in Falten. Ihre Hände zitterten trotz des milden Wetters, und ihre Augen verrieten ihren inneren Kampf.
«Das ist die Wahrheit», fügte Tess hinzu. «Bitte. Sie müssen mir vertrauen.»
Die Sekunden dehnten sich zu Stunden. Endlich schien sich die Waagschale eine Winzigkeit zu neigen, und die Frau sagte widerstrebend: «Kommen Sie.» Dann machte sie kehrt und ging die Seitengasse entlang.
Der Laden befand sich in einem kleinen, einzeln stehenden zweistöckigen Haus, dessen oberes Stockwerk eine Wohnung war. Tess und Reilly folgten der Frau an einer Außentreppe zum Obergeschoss vorbei und blieben vor einer alten Eichenholztür an der Rückwand des Gebäudes stehen. Die Frau hantierte mit einem Schlüsselbund, bis sich das Schloss endlich öffnete, und führte die beiden hinein.
Durch einen kleinen Flur traten sie in einen größeren Raum, wo die alte Frau eine Stehlampe einschaltete. Sie standen in einem Wohnzimmer, von dem aus eine Fenstertür in einen kleinen Garten hinausführte. Der Raum war vollgestellt mit den Erinnerungsstücken eines langen, erfüllten Lebens. Regalbretter bogen sich unter dem Gewicht von Büchern, Bilderrahmen und Vasen. Um einen niedrigen Kaffeetisch standen eine Couch und zwei Sessel, die fast
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