Dogma
überschritten, hinter der es kein Zurück gab.
Tess starrte sie einen Moment lang nur an. Hatte sie recht verstanden? Dann durchströmte sie eine Welle der Begeisterung. «Sie haben sie? Sie haben die übrigen Bücher?» Sie rückte auf die vorderste Kante der Couch, bebend vor gespannter Erwartung.
Die alte Frau sah sie an und nickte langsam.
«Wie viele?»
«Viele.» Sie sagte das in verblüffend beiläufigem Ton, als ginge es um etwas sehr Belangloses. «Die Frau, Maysoon – sie hat sie hergebracht, zur Aufbewahrung. Nach Conrads Tod.»
Tess traute ihren Ohren nicht. Ihr Gesicht glühte vor Aufregung. Als sie Reilly einen Blick zuwarf, grinste er ihr aufmunternd zu. Sie wandte sich wieder an die alte Frau. «Conrad war also mit einer Frau zusammen?»
«Sie hatten sich in Konstantinopel kennengelernt, wo sie beide lebten.»
«Und sie war eine Sufi?», erkundigte sich Reilly.
«Ja.»
«Was ist aus den beiden geworden?», fragte Tess. «Conrad ist in Zelve gestorben, nicht wahr?»
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Kapitel Sechsundfünfzig
Kappadokien – Mai 1310
Die Dorfbewohner empfingen sie freundlich, wenn auch zurückhaltend.
Conrad und Maysoon entdeckten die kleine Siedlung in einer engen Schlucht. Vor der Außenwelt verborgen, bestand sie aus einer Gruppe Felskegel unterhalb einer Kirche, die in eine Klippe hineingebaut war. Anfangs waren die Dorfbewohner misstrauisch – sie waren keinen Besuch gewöhnt. Aber Conrad und Maysoon brachten Nachrichten von der Außenwelt mit, ihr Erscheinen war eine spannende Abwechslung, wie die abgeschiedene Gemeinde sie in ihrer Schlucht nur selten erlebte, und so entspannten sich die Leute schon bald. Auch der Priester der Felsenkirche gab ihnen schließlich widerstrebend seinen Segen, obwohl es ihm sichtlich nicht geheuer war, dass ein Ritter des Kreuzes in Begleitung einer Heidin reiste. Immerhin hatte Conrad für die Befreiung des Heiligen Landes gekämpft und dabei seine Hand verloren. Der Priester sah sich daher gezwungen, einige Vorurteile zu überwinden. Maysoon trug ebenfalls dazu bei, indem sie zu seiner großen Überraschung Bibelverse zitierte, die sie als Kind gelernt hatte, als sie unter ihrem Sufi-Meister Toleranz einübte.
Die Hebamme des Dorfes, die sich auch als Heilerin betätigte, half Conrad, Maysoons Handgelenk zu schienen und zu verbinden. Man gab ihnen zu essen und zu trinken. Bei Einbruch der Nacht lagen die beiden aneinandergeschmiegt unter einem Fenster hoch oben in einem ausgehöhlten Felskegel, dessen einziger Bewohner kürzlich verstorben war. Sie beobachteten, wie der Himmel über dem Rand der Schlucht sich in einer ganzen Palette überwältigender Rosa- und Lilatöne färbte, die schließlich von einem einheitlichen Tiefschwarz abgelöst wurden.
Conrad war schon den ganzen Abend schweigsam, und in der letzten halben Stunde hatte er kein Wort mehr gesprochen. Aus jedem seiner Atemzüge sprach Verzweiflung.
Maysoon hob den Kopf von seiner Brust und sah ihn forschend an.
«Was hast du?», fragte sie.
Er schwieg noch einen Moment lang und sah ihr nicht in die Augen, anscheinend ganz in Schwermut versunken. Schließlich sprach er. «Das hier – was ich hier tue. Es ist sinnlos.»
«Warum sagst du so etwas?»
«Es ist sinnlos. Hector, Miguel … Sie sind tot. Und der Himmel weiß, was mich in Zypern erwartet.» Er seufzte tief. «Ich kann das nicht allein schaffen.»
«Du bist nicht allein.»
Er sah sie an, und seine Miene erhellte sich ein wenig. «Du warst großartig. Aber es ist trotzdem sinnlos. Auch wir beide zusammen können es nicht schaffen. Ich war ein Narr, mir einzubilden, ich könnte etwas bewirken.»
Maysoon schmiegte sich enger an ihn. «Nein, das warst du nicht. Es war richtig, es zu versuchen, es war eine große Leistung, diese Bücher ausfindig zu machen und zurückzuerobern. Und wenn du jetzt nicht erreichen kannst, was du ursprünglich vorhattest … dann heißt das nicht, dass du nicht dennoch die Welt verändern kannst.»
«Wie meinst du das?»
«Du wolltest diese Schriften, dieses Wissen so benutzen, wie es in den letzten Jahrhunderten benutzt wurde. Du wolltest den Papst damit erpressen und ihn zwingen, deine Freunde freizugeben und deinen Orden wieder zuzulassen. Das ist ein hehres Ziel, kein Zweifel. Du musstest es versuchen. Aber wenn es dir gelungen wäre … dann wären diese Bücher weiterhin unter Verschluss gehalten worden und vor dem Rest der Welt verborgen geblieben.»
Conrad runzelte verwirrt
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