Dogma
völlig unter Kelim-Überwürfen und bestickten Kissen verschwanden, und die Wände waren mit kleinen Gemälden und alten Familienfotografien in Schwarz-Weiß bedeckt.
«Ich koche einen Kaffee», grummelte die alte Frau. «Ich weiß, ich werde ihn brauchen.»
Sie schlurfte hinaus. Gleich darauf drangen Geräusche herüber, ein Topf klapperte, Wasser lief, dann wurde ein Streichholz angerissen, und schließlich ertönte das leise Zischen eines Gaskochers. Tess nahm inzwischen die gerahmten Fotografien näher in Augenschein. Sie erkannte ihre widerwillige Gastgeberin in jüngeren Jahren, zusammen mit verschiedenen anderen Personen; Dokumente einer früheren Zeit. Nachdem sie ein paar Dutzend Bilder betrachtet hatte, blieb sie vor einem stehen, das ihr förmlich von der Wand entgegensprang. Es zeigte ein junges Mädchen und einen älteren Mann in stolzer Vater-Tochter-Pose. Hinter den beiden war ein großes hölzernes Gerät aus vergangenen Zeiten zu sehen, eine Art halbautomatischer Webstuhl.
Ein Webstuhl zur Tuchherstellung. Eine Maschine, wie Tuchmacher sie benutzten.
«Das ist meine Mutter mit ihrem Vater», sagte die alte Frau, während sie ein kleines Tablett aus der Küche hereintrug und sich auf der Couch niederließ. «Unseren Familienbetrieb gab es schon seit Menschengedenken.»
Tess bekam Gänsehaut. «Was ist daraus geworden?»
«Mein Großvater hat all sein Geld verloren. Er wollte einen modernen Webstuhl kaufen, der aus England geliefert werden sollte, aber der Zwischenhändler, von dem er ihn gekauft hat, ist einfach mit dem Geld verschwunden.» Sie goss den starken Kaffee in Tässchen, die nicht größer als ein Schnapsglas waren, und bedeutete Tess und Reilly, sich zu ihr zu setzen. «Er ist wenig später als gebrochener Mann gestorben. Meine Großmutter musste irgendwie ihren Lebensunterhalt bestreiten. Sie kannte sich mit Tonbrennerei aus, das war das Handwerk der Familie ihres Vaters. Und das hier», sagte sie mit einer Geste, die den ganzen Raum einschloss, «ist das Ergebnis.»
«Sie verkaufen wirklich schöne Dinge», bemerkte Tess lächelnd und nahm auf der Couch neben der alten Frau Platz. Reilly setzte sich in einen Sessel und stellte den Rucksack zu seinen Füßen ab.
Die alte Frau tat Tess’ Lob mit einer Handbewegung ab. «Wir sind stolz auf das, was wir tun, was immer es ist. Anders wäre es der Mühe nicht wert.» Sie nippte an ihrem Kaffee, stellte fest, dass er noch zu heiß war, und setzte die Tasse wieder ab. Einen Moment lang saß sie schweigend da, dann stieß sie einen tiefen Seufzer aus und sah Tess an. «Nun, erzählen Sie … Wer genau sind Sie? Und wie hat es Sie hierher verschlagen, in diesen gottverlassenen Teil der Welt, mit diesen alten Büchern, die Sie bei sich haben?»
Tess warf einen Blick zu Reilly, unsicher, was sie sagen sollte. Eben hatte sie noch innerlich gekocht vor Entrüstung, weil sie glaubte, die alte Frau wolle die Kodizes stehlen. Jetzt saßen sie behaglich in ihrem Wohnzimmer, tranken Kaffee und unterhielten sich höflich.
Reilly nickte ihr ermutigend zu, er bestätigte damit ihr eigenes Gefühl.
Also erzählte Tess. Alles. Die ganze Geschichte, von Sharafis Erscheinen in Jordanien bis zu der Schießerei in der unterirdischen Stadt. Nur die blutrünstigsten Episoden ließ sie aus, um ihre Gastgeberin nicht zu sehr zu schockieren. Die alte Frau hörte aufmerksam zu, wobei ihr Gesichtsausdruck zwischen Staunen und Angst wechselte. Ihr Blick ruhte die meiste Zeit auf Tess und huschte nur hin und wieder zu Reilly, und bis auf eine oder zwei Zwischenfragen unterbrach sie Tess nicht. Gegen Ende der Erzählung begannen ihre Hände zu zittern. Als Tess verstummte, saß die alte Frau eine ganze Weile lang schweigend da. Ihr war anzusehen, wie beunruhigt und innerlich hin und her gerissen sie war.
Tess ließ ihr Zeit, das Gehörte zu verarbeiten. Als sie das Gefühl hatte, es sei genug, fragte sie: «Warum ist Ihre Enkelin uns zum Hotel gefolgt? Sie haben sie geschickt, nicht wahr?»
Die Frau schien sie gar nicht zu hören. Sie starrte gedankenverloren in ihre Kaffeetasse, ganz in ihrem inneren Kampf gefangen. Nach langem Nachdenken begann sie langsam und mit leiser Stimme zu sprechen.
«Sie wussten nicht, was sie damit anfangen sollten, verstehen Sie.» Sie hielt den Blick gesenkt. «Wir wussten auch nie, was wir damit anfangen sollten.» Sie schloss die Augen, von Reue überwältigt, dann sah sie zu Tess auf. Es war, als habe sie gerade eine Grenze
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