Dohlenflug
Sollen
da drinnen in Zukunft vielleicht neun Skelette sitzen anstatt sechs?
Apropos: Haben die Gebeine in der Landser-Uniform wirklich jenem Siegfried
Röck gehört, den Wegener erwähnt hat?«
Amanda Häuslschmied
antwortete erst nach langem Zögern – und vermutlich auch nicht
aus dem Bedürfnis heraus, sich mitzuteilen, sondern wohl eher, weil
sie glaubte, demnächst nicht mehr am Leben zu sein und deshalb ohne
Skrupel aus der Schule plaudern zu können.
»Ja. Mein Mann hat mir
gegenüber zwar nie ein Wort darüber verloren, aber er hatte die
Angewohnheit, im Schlaf zu sprechen. Außerdem habe ich in seinem
Nachlass ein Schreiben gefunden, das an die Angehörigen des
Kriegskameraden adressiert war. Aus dem Inhalt geht hervor, dass Röck
den Brief in einer Almhütte seiner Familie hinterlegt hatte. Eltern
oder Geschwister sollten ihn im Falle seines Todes dort vorfinden, aber
Hans muss vorher drauf gestoßen sein.«
Aus dem aufgelassenen Stollen
drangen Geräusche, wie sie beim Umschlichten von Steinen verursacht
werden.
»Geht es auch etwas
konkreter?«, bohrte Kotek weiter, den Blick gebannt auf den
schwachen Lichtschein gerichtet, der aus dem schicksalhaften Loch drang.
Wieder legte die Greisin eine
Pause ein, ehe sie weitersprach: »Röck schrieb, seine Eltern
oder Geschwister würden dieses Schreiben nur dann zu Gesicht
bekommen, wenn er am siebzehnten Mai neunzehnhundertfünfundvierzig
nicht nach Hause zurückkehrte. Dann wäre er ermordet worden:
entweder von zwei Amerikanern – in diesem Fall würde auch sein
Freund und Kriegskamerad Hans Häuslschmied vermisst werden –
oder von Hans selbst, der dann wahrscheinlich nach einiger Zeit wieder
allein in Gastein auftauchen würde. Würde das passieren, so hätte
Hans ihn wegen eines Goldschatzes in den Siglitz-Stollen im Naßfeld
erschossen und seine Leiche dort versteckt. Nun frage ich Sie: Welche Schlüsse
würden Sie ziehen, wenn Sie im Nachlass Ihres Gatten einen solchen
Brief gefunden hätten?«
Wieder herrschte Schweigen
zwischen den beiden Frauen. Nur die dumpfen Geräusche im Stollen und
manchmal auch das laute Atmen Wegeners waren zu hören.
»Hat Ihr Mann in seinen
Albträumen ausdrücklich gesagt, er habe Röck erschossen?«
Während Kotek die Frage stellte, galt ihre Aufmerksamkeit nach wie
vor dem Seitenstollen, wo Wegener der Entdeckung des Goldschatzes
entgegenfieberte – ebenso wie sie selbst, sie jedoch voller Angst,
denn dieser Moment würde für sie den Tod bedeuten.
»Immer wieder«,
bestätigte Häuslschmied. »Er hat Siegi von hinten in den
Kopf geschossen, noch ehe alle Barren hier gebunkert waren. Wegener hat
die Wahrheit erraten: Mein Mann hatte große Angst, es könnte
ihm ebenso ergehen wie den beiden Amis, denen sie das Gold abgenommen
hatten. Deshalb wollte er seinem Kumpel zuvorkommen und hat zur Pistole
gegriffen. Die könnte in jener Nische versteckt gewesen sein, in der
vorhin der Schürhaken lehnte.«
Drinnen im Seitenstollen ertönte
ein unartikulierter Schrei. Die Frauen hörten Wegener nach vorn zum
Loch stürmen, er beugte sich mit dem Oberkörper heraus und
leuchtete die Dreiergruppe am Boden an.
»Das Gold … es
ist da! Es ist wirklich da!« Er schrie so laut, dass sich das Echo
in den verzweigten Gängen brach.
»Es ist da«,
wiederholte er noch einmal leiser, jetzt mit fester Stimme, so als wolle
er vor sich selbst die Morde rechtfertigen, die er dieses Schatzes wegen
begangen hatte – und noch begehen wollte.
Kotek nahm allen Mut zusammen
und fragte: »Und? Willst du uns nicht die Handschellen abnehmen,
damit wir helfen können, die Barren hinauszutragen?«
Wegener ließ sie einige
furchtbare Augenblicke lang schmoren, ehe er sagte: »Weißt du,
Melanie, die alte Schabracke neben dir kapiert tatsächlich schneller
als du, was abgeht. Sie hat den weiteren Verlauf dieses Tages schon exakt
beschrieben: Ich nehme jetzt nur zwei Barren mit. Damit bin ich mobiler
als mit mehreren und mit euch als Trägerinnen. Wenn ihr hier bleibt,
werden Jahre vergehen, bis man eure Leichen hinter der Mauer findet.«
»Du brichst die Brücken
hinter dir ab?«, fragte Kotek, nur um irgendetwas zu sagen und nicht
vollständig ihrer Todesangst zu verfallen.
Wegener lachte verächtlich.
»Was denkst du denn? Natürlich wird Jacobi demnächst
dahinterkommen, dass ich der Mörder bin. Nach zehn
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