Doktor Faustus
gewissen, gröberen und tonmateriellen Sinn ist die Arbeit ja abgetan, ehe die Komposition nur anhebt, und diese kann sich nun völlig ungebunden ergehen, das heißt: sich dem Ausdruck überlassen, als welcher jenseits des Konstruktiven, oder innerhalb ihrer vollkommensten Strenge, wiedergewonnen ist. Der Schöpfer von Fausti {707} Wehklage kann sich, in dem vororganisierten Material, hemmungslos, unbekümmert um die schon vorgegebene Konstruktion, der Subjektivität überlassen, und so ist dieses sein strengstes Werk, ein Werk äußerster Kalkulation, zugleich rein expressiv. Das Zurückgehen auf Monteverdi und den Stil seiner Zeit ist eben das, was ich die »Rekonstruktion des Ausdrucks« nannte, – des Ausdrucks in seiner Erst- und Urerscheinung, des Ausdrucks als Klage.
Aufgeboten werden nun alle Ausdrucksmittel jener emanzipatorischen Epoche, von denen ich die Echo-Wirkung schon nannte – besonders gemäß einem durchaus variativen, gewissermaßen stehenden Werk, in welchem jede Umformung selbst schon das Echo der vorhergehenden ist. Es fehlt nicht an widerhallartigen Fortsetzungen, der weiterführenden Wiederholung der Schlußphrase eines hingestellten Themas in höherer Lage. Orpheische Klage-Akzente sind leise erinnert, die Faust und Orpheus zu Brüdern machen als Beschwörer des Schattenreichs: in jener Episode, wo Faust Helena heraufruft, die ihm einen Sohn gebären wird. Hundert Anspielungen auf Ton und Geist des Madrigals geschehen, und ein ganzer Satz, der Zuspruch der Freunde beim Mahle der letzten Nacht, ist in korrekter Madrigalform geschrieben.
Aufgeboten aber, im Sinne des Resumees geradezu, werden die erdenklichsten ausdruckstragenden Momente der Musik überhaupt: nicht als mechanische Nachahmung und als ein Zurückgehen, versteht sich, sondern es ist wie ein allerdings bewußtes Verfügen über sämtliche Ausdruckscharaktere, die sich in der Geschichte der Musik je und je niedergeschlagen, und die hier in einer Art von alchimistischem Destillationsprozeß zu Grundtypen der Gefühlsbedeutung geläutert und auskristallisiert werden. Man hat da den tief aufholenden Seufzer bei solchen Worten, wie: »Ach, Fauste, du verwegenes und nicht werdes Herz, ach, ach, Vernunft, Mutwill, Vermessenheit {708} und freier Will …«, die vielfache Bildung von Vorhalten, wenn auch nur als rhythmisches Mittel noch, die melodische Chromatik, das bange Gesamtschweigen vor einem Phrasenanfang, Wiederholungen wie in jenem »Lasciatemi«, die Dehnung von Silben, fallende Intervalle, absinkende Deklamation – – unter ungeheueren Kontrastwirkungen wie dem tragischen Chor-Einsatz, a capella und in höchster Kraft, nach der orchestral, als große Ballettmusik und Galopp von phantastischer rhythmischer Vielfalt gegebenen Höllenfahrt Fausti, – einem überwältigenden Klage-Ausbruch nach einer Orgie infernalischer Lustigkeit.
Diese wilde Idee des Niedergeholtwerdens als Tanz-Furioso erinnert noch am meisten an den Geist der »Apocalipsis cum figuris«, – daneben etwa noch das gräßliche, ich stehe nicht an zu sagen: zynische chorische Scherzo, worin »der böse Geist dem betrübten Fausto mit seltsamen, spöttischen Scherzreden und Sprichwörtern zusetzt«, – mit diesem fürchterlichen »Drumb schweig, leid, meyd und vertrag, dein Unglück keinem Menschen klag, es ist zu spat, an Gott verzag, dein Unglück läuft herein all Tag«. Im übrigen aber hat Leverkühns Spätwerk wenig gemein mit dem seiner dreißig Jahre. Es ist stilreiner, als dieses, dunkler im Ton als Ganzes und ohne Parodie, nicht konservativer in seiner Rückwärtsgewandtheit, aber milder, melodischer, mehr Kontrapunkt als Polyphonie, – womit ich sagen will, daß die Nebenstimmen in ihrer Selbständigkeit mehr Rücksicht nehmen auf die Hauptstimme, die oft in langen melodischen Bögen verläuft, und deren Kern, aus dem alles entwickelt ist, eben das zwölftönige »Denn ich sterbe als ein böser und guter Christ« bildet. Längst vorhergesagt ist in diesen Blättern, daß im »Faustus« auch jenes Buchstabensymbol, die von mir zuerst wahrgenommene Hetaera-Esmeralda-Figur, das h e a e es, sehr oft Melodik und Harmonik beherrscht: überall da nämlich, wo von der Verschreibung und Versprechung, dem Blut-Rezeß, nur immer die Rede ist.
{709} Vor allem unterscheidet die Faust-Kantate sich von der »Apokalypse« durch ihre großen Orchester-Zwischenspiele, die zuweilen nur allgemein die Haltung des Werkes zu seinem Gegenstande, hindeutend,
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