Doktor Pascal - 20
Souleiade. Binnen kurzem würde bittere Not herrschen. Und Clotilde, die im Grunde sehr vernünftig war, zitterte als erste. Sie bewahrte ihre lebhafte Fröhlichkeit, solange Pascal bei ihr war; doch in ihrer Liebe war sie vorausschauender als er und verfiel in wahres Entsetzen, sowie er sie einen Augenblick verließ. Sie fragte sich, was aus ihm werden sollte in seinem Alter und mit einem so kostspieligen Haus am Halse. Mehrere Tage lang beschäftigte sie im geheimen der Plan, zu arbeiten und mit ihren Pastellmalereien Geld zu verdienen, viel Geld. Man war so oft in Bewunderung ausgebrochen ob ihrer einzigartigen und höchst individuellen Begabung, daß sie Martine ins Vertrauen zog und sie eines schönen Morgens damit betraute, mehrere ihrer phantastischen Sträuße dem Farbenhändler vom Cours Sauvaire anzubieten, der, wie es hieß, mit einem Pariser Maler verwandt war. Die ausdrückliche Bedingung dabei war, daß nichts in Plassans ausgestellt, sondern alles weit fortgeschafft werden sollte. Doch das Ergebnis war vernichtend. Der Händler war entsetzt über ihre absonderliche Phantasie, über das zügellose Ungestüm der Ausführung, und er erklärte, das lasse sich niemals verkaufen. Sie war verzweifelt darüber, dicke Tränen traten ihr in die Augen. Wozu war sie nütze? Es war ein Jammer und eine Schande, wenn man zu nichts gut war! Und das Dienstmädchen mußte sie trösten und ihr erklären, daß gewiß nicht alle Frauen zum Arbeiten geboren werden, daß die einen wie die Blumen in den Gärten wachsen und Wohlgeruch verströmen, während die anderen das nährende Korn der Erde sind, das zermahlen wird.
Indessen ließ sich Martine einen anderen Plan durch den Kopf gehen, nämlich den Doktor dahin zu bringen, daß er seine Praxis wiederaufnahm. Sie sprach schließlich mit Clotilde darüber, die ihr sogleich die Schwierigkeiten klarmachte, die fast materielle Unmöglichkeit eines solchen Versuchs. Erst am Abend zuvor hatte sie noch mit Pascal darüber gesprochen. Auch er machte sich Sorgen, dachte an die Arbeit als die einzige Aussicht auf Rettung. Der Gedanke, wieder eine Praxis zu eröffnen, mußte ihm zuerst kommen. Aber er war seit so langer Zeit der Arzt der Armen! Wie sollte er es wagen, sich bezahlen zu lassen, wenn er schon seit so vielen Jahren kein Geld mehr gefordert hatte? Und war es nicht auch zu spät, in seinem Alter noch einmal eine Karriere zu beginnen? Ganz abgesehen von den unsinnigen Geschichten, die über ihn in Umlauf waren, dieser Legende eines halb verkrachten Genies, die man um ihn gesponnen hatte. Er würde nicht einen einzigen Patienten wiederbekommen, es wäre eine sinnlose Grausamkeit, ihn zu einem Versuch zu zwingen, aus dem er sicherlich tief verletzt und mit leeren Händen hervorgehen würde. Clotilde bemühte sich im Gegenteil nach Kräften, ihn davon abzubringen, und Martine begriff diese gewichtigen Gründe und meinte nun ebenfalls, daß man ihn hindern müsse, sich der Gefahr eines so großen Kummers auszusetzen. Im übrigen war ihr während des Gesprächs ein neuer Einfall gekommen – sie erinnerte sich an ein altes Notizbuch, das sie in einem Schrank entdeckt und in das sie früher die Krankenbesuche des Doktors eingetragen hatte. Viele Leute hatten niemals bezahlt, und zwar so viele, daß ihre Namen zwei ganze Seiten des Notizbuches füllten. Warum sollte man nicht jetzt, da es einem schlecht ging, von diesen Leuten die Summen fordern, die sie dem Herrn Doktor schuldeten? Man konnte das sehr wohl tun, ohne ihm etwas davon zu sagen, denn er hatte es immer abgelehnt, sich an das Gericht zu wenden. Und diesmal gab Clotilde ihr recht. Es war eine richtige Verschwörung; sie selber notierte die Außenstände und schrieb die Rechnungen, die das Dienstmädchen austragen sollte. Doch nirgends erhielt sie auch nur einen Sou, an jeder Tür bekam sie zur Antwort, man werde die Rechnung nachprüfen und beim Doktor vorbeikommen. Zehn Tage vergingen, niemand kam, und es waren nur noch sechs Francs im Haus, von denen man noch zwei oder drei Tage leben konnte.
Als Martine am folgenden Tage wieder mit leeren Händen von einem ehemaligen Patienten zurückkehrte, nahm sie Clotilde beiseite, um ihr zu erzählen, daß sie an der Ecke der Rue de la Banne mit Madame Félicité gesprochen habe. Gewiß hatte diese ihr aufgelauert. Sie setzte noch immer nicht den Fuß auf die Souleiade. Selbst das Unglück, das ihren Sohn betroffen hatte, dieser plötzliche Geldverlust, von dem die ganze Stadt
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