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Doktor Pascal - 20

Doktor Pascal - 20

Titel: Doktor Pascal - 20 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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Neustadt; das Unglück schien sie mit sich fortreißen zu wollen.
    »Hör zu«, sagte Pascal endlich, »mir fällt etwas ein … Wenn ich mich nun an Ramond wende, der leiht uns gern tausend Francs, und wir geben sie ihm zurück, wenn unsere Angelegenheiten geregelt sind.«
    Sie antwortete nicht gleich. Ramond, den sie abgewiesen hatte, der jetzt verheiratet war, in einem Haus in der Neustadt wohnte und im Begriff stand, der schöne Modearzt zu werden und ein Vermögen zu verdienen! Sie kannte ihn glücklicherweise als einen Mann von redlicher Gesinnung und zuverlässigem Herzen. Wenn er sie nicht wieder besucht hatte, so ganz gewiß aus Taktgefühl.
    Sooft er ihnen begegnete und sie grüßte, freute er sich über ihr Glück.
    »Ist dir das peinlich?« fragte Pascal unbefangen, der dem jungen Arzt sein Haus, seinen Geldbeutel und sein Herz geöffnet hätte.
    »Nein, nein!« beeilte sie sich zu antworten. »Zwischen uns hat es immer nur Zuneigung und Offenheit gegeben. Ich glaube, ich habe ihm großen Kummer bereitet, aber er hat mir verziehen … Du hast recht, wir haben keinen anderen Freund, wir müssen uns an Ramond wenden.«
    Sie hatten Pech. Ramond war nicht zu Hause, er war zu einer Beratung in Marseille und sollte erst am folgenden Abend wieder zurückkehren. Die junge Frau Ramond, die sie empfing, war eine ehemalige Freundin Clotildes, drei Jahre jünger als diese. Sie schien ein wenig verlegen, zeigte sich jedoch äußerst liebenswürdig. Aber der Doktor sprach natürlich sein Anliegen nicht aus, sondern begnügte sich, seinen Besuch damit zu erklären, daß er Ramond gern wiedersehen wollte.
    Auf der Straße fühlten sich Pascal und Clotilde von neuem verlassen und verloren. Wohin sollten sie sich jetzt wenden? Welchen Versuch unternehmen? Und sie mußten auf gut Glück weitergehen.
    »Meister, ich habe es dir nicht gesagt«, wagte Clotilde leise vorzubringen, »aber wie es scheint, hat Martine Großmutter getroffen … Ja, Großmutter macht sich Sorge um uns und hat gefragt, warum wir nicht zu ihr kommen, wenn wir in Not sind … Und sieh doch, dort ist ihre Tür …«
    Tatsächlich waren sie in der Rue de la Banne, man sah die Ecke des Place de la SousPréfecture. Doch Pascal hatte begriffen und hieß Clotilde schweigen.
    »Niemals, hörst du! Du würdest selber auch nicht hingehen. Du sagst mir das, weil es dir weh tut, daß ich so arm bin. Auch mir ist das Herz schwer bei dem Gedanken, daß du da bist und daß du leidest. Aber lieber leiden als etwas tun, was man sich ständig zum Vorwurf machen müßte … Ich will nicht, und ich kann nicht.«
    Sie verließen die Rue de la Banne und schlugen den Weg zur Altstadt ein.
    »Ich will mich tausendmal lieber an Fremde wenden … Vielleicht haben wir noch Freunde, aber sie gehören selber zu den Armen.«
    Und er fand sich mit dem Gedanken ab, um Almosen zu bitten; am Arme Abisags setzte David seine Wanderung fort, ging der bettelnde alte König von Tür zu Tür, an die Schulter seiner liebenden Untertanin gelehnt, deren Jugend seine einzige Stütze blieb. Es war fast sechs Uhr, die starke Hitze ließ nach, die engen Straßen füllten sich mit Menschen; und in diesem dichtbevölkerten Stadtviertel, in dem sie geliebt wurden, grüßte man sie, lächelte man ihnen zu. Ein wenig Mitleid mischte sich in die Bewunderung, denn jeder wußte von ihrem Ruin. Dennoch schienen sie von noch erhabenerer Schönheit zu sein, wie sie beide, er mit weißem Haupt, sie mit blondem Haar, so niedergeschmettert dahingingen. Man spürte, daß sie noch fester vereint und einander verbunden waren, sie trugen den Kopf immer noch hoch und waren stolz auf ihre strahlende Liebe, obgleich vom Unglück geschlagen, obgleich Pascal wankte und Clotilde ihn tapferen Herzens aufrichten mußte. Arbeiter im Arbeitskittel gingen vorüber, die mehr Geld in der Tasche hatten als sie. Niemand wagte ihnen den Sou anzubieten, den man den Hungernden nicht verwehrt. In der Rue Canquoin wollten sie bei Guiraude haltmachen, aber sie war in der Woche zuvor gestorben. Zwei weitere Versuche, die sie unternahmen, schlugen fehl. Jetzt waren sie so weit, daß sie daran dachten, sich irgendwo zehn Francs zu leihen. Seit drei Stunden durchstreiften sie nun schon die Stadt.
    Ach, dieses Plassans mit dem Cours Sauvaire, der Rue de Rome und der Rue de la Banne, die es in drei Stadtviertel teilten, dieses Plassans mit den geschlossenen Fenstern, diese von der Sonne verzehrte, scheinbar tote Stadt, die unter dieser

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