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Doktor Pascal - 20

Doktor Pascal - 20

Titel: Doktor Pascal - 20 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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sprach, hatte sie ihm nicht nähergebracht. Doch sie wartete in leidenschaftlicher Erregung, sie bewahrte die Haltung einer sittenstrengen Mutter, die sich mit gewissen Fehltritten erst dann abfinden würde, wenn sie gewiß sein konnte, Pascal endlich doch in der Hand zu haben; sie rechnete damit, daß er eines schönen Tages gezwungen sein würde, sie um Hilfe anzugehen. Wenn er keinen Sou mehr hatte und an ihre Tür klopfte, dann würde sie ihm ihre Bedingungen diktieren, würde ihn zur Heirat mit Clotilde bestimmen oder besser noch verlangen, daß Clotilde fortging. Jedoch die Tage verstrichen, sie sah ihn nicht kommen. Und deshalb hatte sie Martine angehalten, hatte eine mitleidige Miene aufgesetzt und gefragt, wie es ihnen ergehe, scheinbar verwundert, daß man nicht zu ihrer Geldbörse Zuflucht nahm, wobei sie zu verstehen gab, daß ihre Würde sie hindere, den ersten Schritt zu tun.
    »Sie sollten mit dem Herrn Doktor darüber sprechen und ihn überreden«, schloß das Dienstmädchen. »Wirklich, warum sollte er sich denn nicht an seine Mutter wenden? Das wäre doch ganz natürlich.«
    Clotilde war entrüstet.
    »Oh, niemals! Einen solchen Auftrag übernehme ich nicht. Der Meister würde böse werden, und er hätte recht damit. Ich glaube sicher, er würde lieber verhungern, als Großmutters Brot zu essen.«
    Und als Martine ihnen am übernächsten Abend einen Rest gekochtes Rindfleisch auftrug, erklärte sie unumwunden:
    »Ich habe kein Geld mehr, Herr Doktor, und morgen wird es nur Kartoffeln geben, ohne Öl oder Butter … Seit drei Wochen trinken Sie nun schon Wasser. Jetzt werden Sie auch auf Fleisch verzichten müssen.«
    Sie wurden vergnügt und scherzten wieder.
    »Habt Ihr denn noch Salz, meine alte Gute?«
    »O ja, Herr Doktor, noch ein bißchen.«
    »Na also, Kartoffeln mit Salz, das schmeckt sehr gut, wenn man Hunger hat.«
    Sie ging in ihre Küche zurück, und die beiden nahmen ganz leise ihre Spötteleien über Martines außergewöhnlichen Geiz wieder auf. Niemals hätte sie angeboten, ihnen zehn Francs vorzuschießen, obwohl sie ihren kleinen Schatz besaß, der irgendwo versteckt war, an einem sicheren Ort, den niemand kannte. Im übrigen lachten sie darüber, ohne ihr böse zu sein, denn dieser Gedanke mochte ihr ebenso fernliegen, wie sie nicht die Sterne vom Himmel holen konnte, um sie ihnen aufzutischen.
    In der Nacht jedoch, sobald sie zu Bett gegangen waren, spürte Pascal, daß Clotilde erregt war und von Schlaflosigkeit gequält wurde. Für gewöhnlich hörte er, wenn sie in der lauen Finsternis einer in des anderen Armen lagen, ihre Beichte an. Und sie wagte es, zu ihm von ihrer Sorge um ihn, um sich, um das ganze Haus zu sprechen. Was sollte aus ihnen werden, nun, da sie keine Mittel mehr besaßen? Einen Augenblick war sie nahe daran, ihm von seiner Mutter zu sprechen. Dann wagte sie es doch nicht; sie begnügte sich damit, ihm einzugestehen, was für Schritte sie unternommen hatten, sie und Martine. Sie erzählte ihm von dem wiedergefundenen alten Notizbuch, von den Rechnungen, die sie ausgeschrieben und verschickt, von dem Geld, das sie überall vergebens gefordert hatten. Unter anderen Umständen hätte er bei diesem Geständnis großen Kummer und heftigen Zorn empfunden, wäre er verletzt gewesen, daß man ohne sein Wissen und gegen die Einstellung gehandelt, die er während seines ganzen beruflichen Lebens vertreten hatte. Er blieb zunächst stumm, war sehr bewegt, und das genügte als Beweis dafür, wie groß unter dem Mantel der Sorglosigkeit, die er dem Elend gegenüber an den Tag legte, seine geheime Angst zuweilen war. Dann verzieh er Clotilde, indem er sie leidenschaftlich an seine Brust drückte, und meinte schließlich, sie habe recht getan, man könne nicht länger so leben. Sie sprachen nun nicht mehr, doch sie fühlte, daß er nicht schlief, daß er wie sie nach einem Mittel suchte, das für die täglichen Bedürfnisse notwendige Geld zu beschaffen. Dies war ihre erste unglückliche Nacht, eine Nacht gemeinsamen Leides, in der sie verzweifelt war über die Qual, die er sich bereitete, während er den Gedanken nicht zu ertragen vermochte, sie ohne Brot zu wissen.
    Am nächsten Tag aßen sie zu Mittag nur Früchte. Der Doktor war den ganzen Vormittag über stumm geblieben; in ihm vollzog sich sichtbar ein innerer Kampf. Und erst gegen drei Uhr faßte er einen Entschluß.
    »Jetzt heißt es sich regen«, sagte er zu seiner Gefährtin. »Ich will nicht, daß du auch heute

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