Doktor Pascal - 20
Unvermeidliche ausgesprochen würde.
»Sieh mich an, Meister, sieh mir ins Gesicht … Ich beschwöre dich, sei stark, wähle also zwischen deinem Werk und mir, denn es scheint, als wolltest du mich fortschicken, um besser arbeiten zu können!«
Der Augenblick der heroischen Lüge war gekommen. Er blickte auf und schaute ihr tapfer ins Gesicht. Mit dem Lächeln eines Sterbenden, der den Tod herbeisehnt, sagte er, und seine Stimme hatte wieder den Klang himmlischer Güte:
»Wie du dich ereiferst! Kannst du denn nicht einfach deine Pflicht tun, wie alle anderen? Ich habe viel zu arbeiten, ich muß allein sein; und du, Liebes, du mußt zu deinem Bruder. So geh also, es ist alles zu Ende.«
Einige Sekunden herrschte schreckliches Schweigen. Sie sah ihn noch immer fest an in der Hoffnung, daß er schwach würde. Sagte er wirklich die Wahrheit, opferte er sich nicht, damit sie glücklich würde? Einen Augenblick überkam sie eine Ahnung, als hätte ein zitternder Hauch, der von ihm ausging, es ihr mitgeteilt.
»So schickst du mich also für immer fort? Und du würdest nicht erlauben, daß ich eines Tages zurückkomme?«
Er blieb standhaft, er lächelte abermals und schien damit sagen zu wollen, daß man nicht fortgehe, um so ohne weiteres zurückzukommen; jetzt verwirrte sich alles, ihr Blick trübte sich, und sie mochte glauben, daß er in aller Aufrichtigkeit die Arbeit wählte als Mann der Wissenschaft, bei dem das Werk den Sieg über das Weib davonträgt. Sie war wieder sehr blaß geworden, sie wartete noch ein wenig in der grauenvollen Stille; dann sagte sie langsam mit dem Ausdruck zärtlicher und vollkommener Unterwerfung:
»Es ist gut, Meister, ich gehe, wann du willst, und ich komme erst an dem Tag wieder, da du mich zurückrufst.«
Das war der Axthieb, der trennend zwischen sie fuhr. Das Unwiderrufliche war geschehen. Félicité war überrascht, daß sie nicht mehr zu reden brauchte, und wollte sogleich das Datum der Abreise festsetzen. Sie beglückwünschte sich zu ihrer Beharrlichkeit; sie glaubte, in heißem Kampf den Sieg davongetragen zu haben. Es war Freitag, und man vereinbarte, daß Clotilde am Sonntag abreisen würde. Man schickte sogar eine Depesche an Maxime.
Schon seit drei Tagen wehte der Mistral. Doch am Abend stürmte er mit verdoppelter Heftigkeit, und Martine verkündete, nach dem Volksglauben werde er mindestens noch drei Tage anhalten. Die Stürme, die gegen Ende September durch das Viornetal brausen, sind schrecklich. Deshalb ging sie sorglich in alle Zimmer hinauf, um sich zu vergewissern, daß die Fensterläden fest geschlossen waren. Wenn der Mistral wehte, packte er, über die Dächer von Plassans hinwegfegend, die Souleiade von der Seite auf dem kleinen Plateau, auf dem sie erbaut war. Ein Toben, ein fortgesetzter wütender Wirbelsturm peitschte dann das Haus, rüttelte es tage und nächtelang ohne Unterlaß vom Keller bis zum Dachboden durch. Dachziegel flogen umher, Fensterbeschläge wurden herausgerissen, während der Wind mit verzweifelt klagendem Heulen durch die Ritzen ins Haus drang und die Türen, sowie man sie zu schließen vergaß, mit donnerndem Krachen zuschlugen. Man hätte meinen können, die Souleiade habe mitten in dem Getöse und der Angst eine wahre Belagerung auszuhalten.
Am nächsten Tag wollte Pascal sich mit Clotilde in dem vom Sturm geschüttelten trübseligen Haus mit den Reisevorbereitungen beschäftigen. Die alte Frau Rougon sollte erst am Sonntag wiederkommen, wenn es ans Abschiednehmen ging. Als Martine von der bevorstehenden Trennung erfuhr, war sie betroffen und stumm, in ihren Augen leuchtete es kurz auf. Und als man sie mit der Bemerkung, daß sie zum Kofferpacken nicht gebraucht werde, aus dem Zimmer schickte, kehrte sie in ihre Küche zurück, widmete sich dort ihren gewohnten Arbeiten und gab sich den Anschein, als wisse sie nichts von dem Unglück, das ihr Leben zu dritt jäh veränderte. Doch beim leisesten Ruf Pascals eilte sie so flink, so behende herbei, mit so hellem Gesicht, so strahlend vor Eifer, ihm zu dienen, daß sie wieder ein junges Mädchen zu werden schien. Pascal wich nicht eine Minute von Clotildes Seite, half ihr und wollte sich überzeugen, daß sie auch alles mitnahm, was sie brauchte. Zwei große Koffer standen geöffnet mitten in der Unordnung des Zimmers; Pakete, Kleidungsstücke lagen überall herum; wohl zwanzigmal sahen sie in Möbeln und Schubfächern nach. Und mit dieser Arbeit, dieser Sorge, nichts zu vergessen,
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