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Doktor Pascal - 20

Doktor Pascal - 20

Titel: Doktor Pascal - 20 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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Stelle, wo sich ihr göttlich schlanker Körper abzeichnete. Und seine Freude, hier zu sein, sein Schmerz, Clotilde hier nicht mehr zu sehen, diese heftige Gemütsbewegung erschöpfte ihn so sehr, daß er die gefürchtete Stätte nicht jeden Tag aufzusuchen wagte und in seinem kalten Zimmer schlief, wo er Clotilde, wenn er schlaflos dalag, nicht so nahe und so lebendig vor sich sah.
    Mitten in seiner verbissenen Arbeit hatte Pascal noch eine große, schmerzliche Freude: die Briefe Clotildes. Sie schrieb ihm regelmäßig zweimal in der Woche, lange Briefe von acht bis zwölf Seiten, in denen sie ihm von ihrem täglichen Leben berichtete. Anscheinend war sie in Paris nicht sehr glücklich. Maxime, der seinen Krankenstuhl nicht mehr verließ, mußte sie wohl, wie es verwöhnte Kinder und Kranke tun, mit Forderungen quälen, denn sie schrieb, daß sie völlig abgeschlossen lebe, ihn unaufhörlich umsorgen müsse und nicht einmal ans Fenster treten dürfe, um einen Blick hinunter auf die Straße zu werfen, wo der mondäne Strom der Spaziergänger des Bois de Boulogne auf und nieder wogte; und aus gewissen Redewendungen hörte man heraus, daß ihr Bruder, nachdem er so ungeduldig nach ihr verlangt hatte, bereits Argwohn gegen sie hegte und ihr in seiner ständigen Angst, ausgenützt und ausgeplündert zu werden, schon mit Mißtrauen und Haß begegnete wie allen Personen, die ihn bedienten. Zweimal hatte sie ihren Vater gesehen; noch immer sehr munter, steckte er bis über den Kopf in Geschäften, hatte sich zur Republik bekehrt und stand auf dem Gipfel seines politischen und finanziellen Ruhms. Saccard hatte sie beiseite genommen, um ihr zu erklären, daß der arme Maxime wirklich unerträglich sei und daß sie Mut habe, wenn sie einwilligte, sich für ihn aufzuopfern. Da sie nicht alles allein tun konnte, war er sogar so freundlich gewesen, ihr am nächsten Tag die Nichte seines Friseurs zu schicken, ein junges Mädchen von achtzehn Jahren namens Rose mit sehr blondem Haar und unschuldigem Gesicht, das ihr jetzt bei der Pflege des Kranken half. Im übrigen beklagte sich Clotilde nicht, sondern war im Gegenteil beflissen, gleichmütig und zufrieden zu erscheinen, dem Leben ergeben. Ihre Briefe waren voller Tapferkeit, ohne Zorn über die grausame Trennung, ohne den verzweifelten Appell an die Liebe Pascals, er möge sie zurückrufen. Doch zwischen den Zeilen las er, wie sie aufbegehrend bebte, wie sie ihm mit ihrem ganzen Wesen zustrebte, zu der Torheit bereit, beim leisesten Wort sofort zu ihm zurückzukehren!
    Und ebendieses Wort wollte Pascal nicht schreiben. Die Dinge würden sich schon einrenken, Maxime würde sich an seine Schwester gewöhnen, das Opfer mußte jetzt, da es nun einmal vollzogen war, bis zum Ende vollbracht werden. Eine einzige Zeile von ihm, geschrieben in der Schwäche einer Minute, und der Erfolg aller Mühe war dahin, das Elend würde von neuem beginnen. Niemals brauchte Pascal größeren Mut als jetzt, wenn er Clotilde antwortete. Während seiner qualvollen Nächte kämpfte er mit sich, rief in rasender Verzweiflung ihren Namen und stand auf, um zu schreiben, um sie sogleich durch eine Depesche zurückzurufen. Am Tage dann, wenn er viel geweint hatte, ließ seine Erregung nach; und seine Antwort war stets sehr kurz, beinahe kühl. Er überwachte jeden seiner Sätze und begann wieder von vorn, wenn er glaubte, er habe sich gehenlassen. Doch welche Qual waren diese so kurzen, so eiskalten entsetzlichen Briefe, in denen er seinem Herzen zuwiderhandelte, nur um Clotilde von sich zu lösen, um sich ins Unrecht zu setzen und sie glauben zu machen, sie könne ihn ruhig vergessen, da er sie ja auch vergaß! Hinterher war er in Schweiß gebadet, erschöpft wie nach einer gewaltigen Heldentat.
    Es war in den letzten Oktobertagen – Clotilde war seit einem Monat fort –, als Pascal eines Morgens einen plötzlichen Erstickungsanfall bekam. Schon mehrmals hatte er leichte Beklemmungen empfunden, die er der Arbeit zuschrieb. Doch diesmal waren die Symptome so eindeutig, daß er sich nicht täuschen konnte: ein stechender Schmerz in der Herzgegend, der sich auf die ganze Brust ausdehnte und in den linken Arm ausstrahlte, ein furchtbares Gefühl des Erdrücktwerdens und der Angst, während er in kalten Schweiß gebadet war. Es war ein Anfall von Angina pectoris. Er dauerte kaum länger als eine Minute, und Pascal war zunächst mehr überrascht als erschreckt. In jener Blindheit, mit der die Ärzte ihren eigenen

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