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Doktor Pascal - 20

Doktor Pascal - 20

Titel: Doktor Pascal - 20 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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das nicht, immer wieder anzufangen; beim geringsten Anlaß brauste er auf und ließ sie seine Unzufriedenheit spüren. Eines Abends, als er wiederum seine Mutter endlos in der Küche hatte reden hören, packte ihn wilder Zorn.
    »Hört gut zu, Martine, ich will nicht mehr, daß sie die Souleiade betritt … Wenn Ihr sie nur noch ein einziges Mal dort unten empfangt, jage ich Euch aus dem Haus!«
    Tief betroffen, blieb sie unbeweglich stehen. In all den zweiunddreißig Jahren, die sie ihm diente, hatte er ihr noch nie in dieser Form gedroht, sie fortzuschicken.
    »Oh, Herr Doktor! Das brächten Sie fertig! Aber ich würde nicht gehen, ich würde mich vor die Tür legen.«
    Schon schämte er sich seiner zornigen Aufwallung und schlug einen sanfteren Ton an.
    »Ich weiß nämlich ganz genau, was da vorgeht. Sie kommt, um Euch zu bearbeiten, um Euch gegen mich aufzuhetzen, nicht wahr? Ja, sie hat es auf meine Papiere abgesehen, sie möchte alles stehlen, alles vernichten, was da oben in meinem Schrank ist. Ich kenne sie; wenn sie etwas will, dann will sie es ganz … Ihr könnt ihr also sagen, daß ich aufpasse und daß ich sie, solange ich am Leben bin, nicht an den Schrank herankommen lasse. Den Schlüssel habe ich hier in meiner Tasche.«
    In der Tat war seine ganze Angst eines gehetzten und bedrohten Wissenschaftlers zurückgekehrt. Seit er allein lebte, hatte er das Empfinden, daß ihm erneut Gefahr drohte, daß man ihm ständig insgeheim auflauerte. Der Ring zog sich immer enger zusammen, und wenn Pascal sich so grob verhielt gegenüber allen Versuchen, ihn zu überfallen, wenn er die Angriffe seiner Mutter abwehrte, dann deshalb, weil er sich über ihre wahren Absichten nicht täuschte und Angst hatte, schwach zu werden. Wenn sie da wäre, würde sie ihn nach und nach beherrschen und ihn schließlich ganz ausschalten. Und so begannen seine Qualen von neuem. Tagsüber war er ständig auf der Hut, am Abend verschloß er selber die Türen, und oft stand er des Nachts noch einmal auf, um sich zu vergewissern, daß niemand die Schlösser aufbrach. Er fürchtete, Martine könnte seiner Mutter, die das Dienstmädchen für ihre Absichten gewonnen hatte, die Tür öffnen in dem Glauben, ihm das ewige Heil zu sichern. Er sah die Akten schon im Kamin in Flammen aufgehen, er bezog Wachtposten vor ihnen; wieder hatte ihn krankhafte Leidenschaft, schmerzliche Liebe zu diesem leblosen Haufen Papier ergriffen, zu diesen nüchternen Manuskriptseiten, denen er die Frau zum Opfer gebracht und die er so zu lieben versuchte, daß er alles übrige darüber vergessen konnte.
    Seit Clotilde nicht mehr da war, stürzte sich Pascal in die Arbeit und versuchte, darin unterzugehen und sich darin zu verlieren. Er schloß sich ein, er setzte den Fuß nicht mehr in den Garten, und als ihm Martine eines Tages den Besuch Doktor Ramonds meldete, hatte er die Kraft zu antworten, daß er ihn nicht empfangen könne; doch dieser ganze erbitterte Wille zur Einsamkeit hatte keinen anderen Sinn, als daß er sich völlig in unaufhörliche Arbeit versenken wollte. Wie gern hätte er den armen Ramond umarmt, denn er erriet sehr wohl, welches feine Gefühl ihn veranlaßt hatte zu kommen, um seinen alten Meister zu trösten. Aber warum auch nur eine Stunde verlieren, warum Aufregungen, Tränen riskieren, nach denen er kraftlos zurückbleiben würde? Vom frühen Morgen an saß er an seinem Tisch, verbrachte dort den Vormittag und den Nachmittag und setzte oft noch spät bei Lampenlicht seine Arbeit fort. Er wollte seinen alten Plan verwirklichen, seine ganze Vererbungstheorie auf einer neuen Ebene noch einmal durcharbeiten, anhand der Akten, der von seiner Familie gelieferten Dokumente feststellen, nach welchen Gesetzen in einer Gruppe von Wesen die Erbanlagen verteilt sind und unter Berücksichtigung der Umwelt mit mathematischer Exaktheit von einem Menschen zum andern führen: eine umfassende Bibel, die Genesis der Familien, der Gesellschaften, der gesamten Menschheit. Er hoffte, daß die Größe eines solchen Vorhabens, die Anstrengung, die zur Verwirklichung einer so gewaltigen Idee notwendig war, ihn vollständig in Anspruch nehmen, ihm seine Gesundheit, seinen Glauben, seinen Stolz wiedergeben werde in der erhabenen Freude über das vollendete Werk. Doch bei allem guten Willen, sich zu begeistern, sich rückhaltlos und mit zäher Beharrlichkeit der Arbeit hinzugeben, schaffte er nichts anderes, als seinen Körper und seinen Geist zu überfordern, war

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