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Doktor Pascal - 20

Doktor Pascal - 20

Titel: Doktor Pascal - 20 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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Schwindsüchtige, als Epileptiker, als Gelähmte gestorben; er hatte aus Leidenschaft gelebt und würde am Herzen sterben. Er zitterte nicht mehr davor, er geriet nicht mehr in Zorn über diese offensichtliche, schicksalhafte und ohne Zweifel notwendige Vererbung. Im Gegenteil, Demut erfaßte ihn, die Gewißheit, daß jede Auflehnung gegen die Naturgesetze von Übel sei. Warum nur hatte er einst, vor Freude jubelnd, bei dem Gedanken triumphiert, daß er nicht zu seiner Familie gehörte, daß er sich anders geartet fühlte, nichts mit ihr gemein hatte? Wie wenig philosophisch, so zu denken. Nur Ungeheuer wuchsen abseits heran. Und zu seiner Familie zu gehören, mein Gott, das erschien ihm am Ende ebenso gut, ebenso schön, als wenn er zu einer anderen Familie gehört hätte, denn glichen sie sich nicht alle, war die Menschheit nicht überall ein und dieselbe, mit derselben Summe von Gut und Böse? Sehr bescheiden und sehr gefaßt bejahte er schließlich angesichts der drohenden Nähe des Leidens und des Todes alles, was das Leben brachte.
    Von nun an lebte Pascal in dem Gedanken, daß er von einer Stunde zur anderen sterben könne. Und das machte ihn vollends erhaben, ließ ihn in vollkommener Selbstverleugnung über sich selbst hinauswachsen. Er hörte nicht auf zu arbeiten, doch niemals hatte er besser begriffen, wie sehr die Mühe ihren Lohn in sich selber finden muß, da das Werk immer nur ein Übergang ist und unvollendet bleibt. Eines Abends beim Essen erzählte ihm Martine, daß Sarteur, der Hutmacher, der ehemalige Insasse von Les Tulettes, sich erhängt habe. Den ganzen Abend sann er über diesen seltsamen Fall nach, über diesen Mann, den er durch sein Heilverfahren der subkutanen Injektionen vom Mordwahn geheilt zu haben glaubte und der in einem erneuten Anfall offensichtlich genügend klaren Verstand besessen hatte, um sich selbst zu erdrosseln, anstatt einem Passanten an die Kehle zu springen. Er sah ihn wieder vor sich, so vollkommen vernünftig, während er ihm riet, sein gutes, arbeitsames Leben wieder aufzunehmen. Welches war denn die zerstörerische Kraft, das Mordverlangen, das sich in Selbstmord verwandelte, so daß der Tod trotz allem seine Arbeit tat? Mit diesem Mann schwand sein letzter Stolz dahin, der Stolz des heilenden Arztes; und jeden Morgen, wenn er sich wieder an die Arbeit setzte, glaubte er nur noch ein buchstabierender Schüler zu sein, der ständig die Wahrheit sucht, während sie ständig zurückweicht und sich ausweitet.
    In dieser erhabenen Ruhe blieb ihm indessen eine Sorge, die Angst, was aus Bonhomme, dem alten Pferd, werden sollte, wenn er vor ihm stürbe. Das arme Tier, das jetzt vollkommen blind und lahm war, verließ sein Strohlager nicht mehr. Wenn sein Herr nach ihm sehen kam, hörte es ihn jedoch noch, wandte den Kopf und war empfänglich für die beiden herzhaften Küsse, die er ihm auf die Nüstern drückte. Die ganze Nachbarschaft zuckte die Achseln und spottete über diesen alten Verwandten, den der Doktor nicht töten lassen wollte. Wollte er denn als erster von hinnen scheiden, mit dem Gedanken, daß man am nächsten Tag den Schinder rufen würde? Doch als er eines Morgens in den Pferdestall trat, hörte Bonhomme ihn nicht und hob nicht den Kopf. Er war tot, er lag mit friedlichem Ausdruck da, wie erleichtert, daß er sanft an dieser Stätte gestorben war. Sein Herr kniete nieder, küßte ihn ein letztes Mal und sagte ihm Lebewohl, während ihm zwei dicke Tränen über die Wangen rollten.
    An jenem Tage interessierte sich Pascal wieder einmal für seinen Nachbarn, Herrn Bellombre. Er war an ein Fenster getreten und sah ihn über die Mauer des Gartens hinweg im fahlen Sonnenschein der ersten Novembertage bei seinem gewohnten Spaziergang; und der Anblick des ehemaligen Gymnasiallehrers, der so vollkommen glücklich dahinlebte, versetzte ihn zunächst in Erstaunen. Ihm schien, als habe er niemals daran gedacht, daß es dort einen Mann von siebzig Jahren gab, ohne Frau, ohne Kind, ohne Hund, der sein ganzes egoistisches Glück aus der Freude schöpfte, außerhalb des Lebens zu leben. Dann erinnerte er sich an seine Zornausbrüche gegen diesen Mann, an seine ironischen Betrachtungen über die Angst vor dem Leben; er dachte daran, daß er ihm Unglück gewünscht, daß er die Hoffnung gehegt hatte, die Züchtigung möge kommen in Gestalt irgendeiner Magd, die seine Geliebte würde, oder in Gestalt irgendeiner unerwarteten Verwandten, die als Rächerin erschiene. Aber

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