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Doktor Pascal - 20

Doktor Pascal - 20

Titel: Doktor Pascal - 20 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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wollte. Dann ließ der Lärm nach, es gab nur noch ein klagendes, verschwörerisches Geflüster zwischen ihr und dem Dienstmädchen. Und nicht ein einziges Mal gab er nach, er beugte sich nicht oben über das Geländer, um sie heraufzurufen.
    Eines Tages wagte Martine zu sagen:
    »Es ist aber doch ganz schön hart, Herr Doktor, seiner Mutter den Eintritt zu verwehren. Um so mehr, als Madame Félicité in guter Absicht herkommt, denn sie kennt ja die große Not vom Herrn Doktor und kommt nur deshalb immer wieder, um Ihnen ihre Hilfe anzubieten.«
    Aufgebracht rief er:
    »Ich will kein Geld, versteht Ihr! Ich werde arbeiten, und ich werde mir meinen Lebensunterhalt schon selber verdienen, zum Teufel!«
    Indessen wurde die Geldfrage immer dringlicher. Er bestand darauf, nicht einen Sou von den fünftausend Francs zu nehmen, die im Sekretär eingeschlossen waren. Jetzt, da er allein war, wurde ihm das materielle Leben völlig gleichgültig; er hätte sich mit Wasser und Brot begnügt; und sooft Martine ihn fragte, wovon sie Wein, Fleisch, irgendeine Leckerei kaufen solle, zuckte er die Achseln. Wozu? Es sei ja noch eine Brotrinde vom letzten Abendbrot übriggeblieben, genügte das nicht? Aber in ihrer Liebe zu ihrem Herrn, der, wie sie fühlte, litt, war sie untröstlich über diesen Geiz, der noch krasser als der ihre war, über dieses jämmerliche Bettlerleben, dem er sich mit dem ganzen Hause überließ. Bei den Arbeitern in der Vorstadt lebte man besser. Deshalb schien sie einen ganzen Tag lang in schrecklichem Kampf mit sich selber zu liegen. Ihre Liebe, die Liebe eines fügsamen Hundes, lag im Streit mit ihrer Leidenschaft für das Geld, das sie Sou für Sou angehäuft und irgendwo versteckt hatte, wo es Junge bekam, wie sie zu sagen pflegte. Lieber hätte sie ein Stück von ihrem eigenen Fleisch hergegeben. Solange ihr Herr nicht allein gelitten hatte, war ihr der Gedanke, ihren Schatz anzurühren, überhaupt nicht gekommen. Und als sie eines Morgens, durch den Anblick ihrer kalten Küche und der leeren Anrichte zum Äußersten getrieben, für eine Stunde verschwand und dann mit Vorräten und dem Rest von einem Hundertfrancsschein wieder heimkehrte, war das ein außergewöhnlicher Heroismus.
    Pascal, der gerade herunterkam, wunderte sich; er fragte sie, woher das Geld käme, und war gleich wieder außer sich und entschlossen, alles auf die Straße zu werfen, da er glaubte, sie wäre zu seiner Mutter gegangen.
    »Aber nein, aber nein, Herr Doktor!« stammelte sie. »So ist es ja gar nicht …«
    Und sie brachte schließlich die Lüge vor, die sie sich zurechtgelegt hatte.
    »Stellen Sie sich vor, die Geldangelegenheiten bei Herrn Grandguillot kommen wieder in Ordnung, oder wenigstens sieht es mir ganz danach aus … Mir kam heute morgen plötzlich der Gedanke, einmal hinzugehen und nachzusehen, und man hat mir gesagt, daß für Sie sicher noch etwas herausspringt und daß ich hundert Francs bekommen könnte … Ja, man hat sich sogar mit einer Empfangsbestätigung von mir zufriedengegeben. Sie werden das später schon regeln.«
    Pascal schien kaum überrascht. Sie hatte ohnehin gehofft, er würde den Sachverhalt nicht nachprüfen. Dennoch war sie erleichtert, als sie sah, mit welch sorgloser Leichtgläubigkeit er ihre Geschichte aufnahm.
    »Ach, um so besser!« rief er. »Ich habe ja immer gesagt, man soll niemals die Hoffnung aufgeben. Dadurch werde ich Zeit haben, meine Angelegenheiten zu ordnen.«
    Seine Angelegenheiten, das war der Verkauf der Souleiade, an den er hin und wieder gedacht hatte. Aber welch grauenvoller Schmerz, dieses Haus zu verlassen, in dem Clotilde aufgewachsen war, in dem er fast achtzehn Jahre lang mit ihr gelebt hatte! Er hatte sich eine Frist von zwei oder drei Wochen gesetzt, um sich die Sache zu überlegen. Sowie er aber Hoffnung hatte, etwas von seinem Geld zurückzubekommen, dachte er überhaupt nicht mehr daran. Von neuem ließ er die Dinge laufen, aß, was Martine ihm vorsetzte, und bemerkte nicht einmal das karge Wohlleben, das sie ihm von neuem bereitete, anbetend vor ihm auf den Knien liegend; und während es ihr das Herz zerriß, daß sie ihren kleinen Schatz angreifen mußte, war sie doch so glücklich, ihn jetzt zu ernähren, ohne daß er auch nur ahnte, daß sie seinen Lebensunterhalt bestritt.
    Pascal wußte ihr übrigens kaum Dank dafür. Hinterher tat es ihm leid, und er bereute seine Heftigkeit. Doch in dem Zustand verzweifelter Erregtheit, in dem er lebte, hinderte ihn

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