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Doktor Pascal - 20

Doktor Pascal - 20

Titel: Doktor Pascal - 20 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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dennoch unkonzentriert und nicht mit dem Herzen bei seiner Aufgabe, wurde von Tag zu Tag kränker und verzweifelter. War das nun der endgültige Bankrott der Arbeit? Er, dessen Leben die Arbeit aufgezehrt hatte, die sein einziger Motor, sein Wohltäter und sein Trost war, sollte er jetzt einsehen müssen, daß Lieben und Geliebtwerden in der Welt über alles geht? Er stellte zuweilen große Überlegungen an, er entwickelte seine neue Theorie vom Gleichgewicht der Kräfte weiter, mit der er darlegen wollte, daß der Mensch jeglichen Sinneseindruck, den er empfängt, als Bewegung wiedergeben muß. Wie normal, erfüllt und glücklich wäre das Leben, wenn man es voll leben könnte, wenn alles funktionierte wie eine gut eingerichtete Maschine, die als Kraft wiedergibt, was sie als Treibstoff verbrennt, und die sich durch das logische Zusammenspiel aller ihrer Organe selber in Kraft und Schönheit erhält! Er sah darin ebensoviel körperliche wie geistige Arbeit, ebensoviel Gefühl wie Überlegung, wobei die genetische Funktion genauso wie die geistige beteiligt war, ohne daß jemals eine Überanstrengung eintrat, weder hier noch dort, denn Überanstrengung ist nichts anderes als gestörtes Gleichgewicht und Krankheit. Ja! Das Leben noch einmal von vorn beginnen können und es zu leben verstehen, den Acker bestellen, die Welt studieren, das Weib lieben, durch den richtigen Einsatz des ganzen Seins zur menschlichen Vollendung gelangen, zum zukünftigen Reich universellen Glücks durch die richtige Verwendung des ganzen Wesens – welch schönes Testament würde da ein Arzt und Philosoph hinterlassen! Und dieser ferne Traum, diese nur geahnte Theorie erfüllte ihn vollends mit Bitterkeit bei dem Gedanken, daß er fortan nur mehr eine vergeudete und verlorene Kraft wäre.
    Im tiefsten Grunde seiner Qual wurde Pascal von dem Empfinden beherrscht, daß es mit ihm zu Ende war. Der Schmerz über den Verlust Clotildes, der Kummer, sie nicht mehr zu besitzen, die Gewißheit, daß er sie nie mehr besitzen würde, all das brach von Stunde zu Stunde stärker über ihn herein, gleich einer schmerzlichen Flut, die alles mit sich fortriß. Die Arbeit war besiegt, er ließ zuweilen den Kopf auf die begonnene Seite sinken und weinte stundenlang, ohne den Mut zu finden, die Feder wieder zur Hand zu nehmen. Sein erbitterter Arbeitseifer, die Tage freiwilliger Selbstvernichtung hatten schreckliche Nächte zur Folge, Nächte glühender Schlaflosigkeit, in denen er in die Bettücher biß, um nicht Clotildes Namen hinauszuschreien. Sie war überall in diesem trübseligen Haus, in das er sich wie in ein Kloster einschloß. Er fand sie in jedem Raum wieder, durch den er ging, sie saß auf jedem Stuhl und stand hinter jeder Tür. Unten im Eßzimmer konnte er sich nicht zu Tisch setzen, ohne daß er sie sich gegenüber sitzen sah. Oben im großen Arbeitszimmer war sie ihm weiterhin in jedem Augenblick Gefährtin; sie selber hatte dort so lange eingeschlossen gelebt, daß alle Dinge ihr Bild auszustrahlen schienen: unaufhörlich fühlte er sie in seiner Nähe, sah er sie schlank und gerade, das feine Profil über ein Pastell geneigt, an ihrem Pult stehen. Und wenn er nicht aus dem Hause ging, um dieser Verfolgung durch die geliebte, quälende Erinnerung zu entfliehen, so deshalb, weil er sicher war, Clotilde auch im Garten überall wiederzufinden, wie sie am Rande der Terrasse vor sich hin träumte, wie sie mit langsamen Schritten auf den Wegen des Pinienhains entlangging, wie sie unter den Platanen saß und sich am ewigen Gesang der Quelle erquickte, wie sie in der Abenddämmerung mit gedankenverlorenem Blick auf der Tenne lag und auf die Sterne wartete. Vor allem gab es für ihn eine Stätte der Sehnsucht und des Schreckens, ein geweihtes Heiligtum, das er nur zitternd betrat: das Zimmer, in dem Clotilde sich ihm hingegeben, in dem sie zusammen geschlafen hatten. Er bewahrte den Schlüssel dazu auf, er hatte darin seit dem traurigen Abschiedsmorgen nicht einen Gegenstand von der Stelle gerückt, und ein vergessener Rock lag noch auf einem Sessel. Dort atmete er sogar noch ihren Hauch, ihren frischen Jugendduft, der gleich einem Wohlgeruch in der Luft zurückgeblieben war. Verzweifelt breitete er die Arme aus und schloß sie um ihr Trugbild, das im zarten Dämmerlicht der geschlossenen Fensterläden, im verblaßten Rosa der alten Indienne schwebte, mit der die Wände bespannt waren. Er schluchzte beim Anblick der Möbel, er küßte das Bett, die

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