Doktor Pascal - 20
nein! Er sah ihn unverändert rüstig und fühlte deutlich, daß Herr Bellombre noch lange auf diese Weise altern würde, hart, geizig, überflüssig und glücklich. Indessen verabscheute er ihn nicht mehr; er hätte ihn gern bedauert, so lächerlich und erbarmungswürdig kam ihm dieser Mann vor, der nicht geliebt wurde. Er, der Todesqualen litt, weil er allein blieb! Er, dessen Herz zerspringen würde, weil es allzusehr von den anderen erfüllt war! Lieber das Leiden, das Leiden allein, als dieser Egoismus, dieses Abtöten alles Lebendigen und Menschlichen in sich!
In der darauffolgenden Nacht hatte Pascal einen erneuten Anfall von Angina pectoris. Er dauerte fast fünf Minuten, und Pascal glaubte ersticken zu müssen, doch hatte er nicht die Kraft, sein Dienstmädchen zu rufen. Als er wieder zu Atem kam, wollte er Martine nicht stören, sondern zog es vor, niemand etwas von der Verschlimmerung seines Leidens zu sagen; aber ihm blieb die Gewißheit, daß es mit ihm zu Ende ging, daß er vielleicht keinen Monat mehr zu leben hatte. Sein erster Gedanke war Clotilde. Warum schrieb er ihr nicht, sie solle schnell kommen? Erst am Tage zuvor hatte er einen Brief von ihr erhalten, und er wollte ihr an diesem Morgen antworten. Da fielen ihm wieder seine Akten ein. Sollte er einmal plötzlich sterben, würde seine Mutter darüber verfügen und sie vernichten, und nicht nur die Akten, sondern auch seine Manuskripte, all seine Papiere, dreißig Jahre seines geistigen Schaffens und seiner Arbeit. So vollzöge sich das Verbrechen, welches er so sehr gefürchtet hatte, daß er allein aus Angst davor in seinen Fiebernächten zitternd wieder aufgestanden war, angespannt horchend, ob nicht jemand den Schrank aufbrach. Schweiß überlief ihn wieder, er sah sich seines Besitzes beraubt, geschändet, sah die Asche seines Werkes in alle vier Winde zerstreut. Und sogleich dachte er wieder an Clotilde und sagte sich, daß er sie nur zurückzurufen brauchte: sie wäre dann da, würde ihm die Augen schließen und sein Andenken verteidigen. Schon hatte er sich hingesetzt und machte sich eilig daran, ihr zu schreiben, damit der Brief mit der Morgenpost wegginge.
Aber als Pascal mit der Feder in der Hand vor dem weißen Blatt saß, überkamen ihn immer stärkere Bedenken, Unzufriedenheit mit sich selbst. War denn dieser Gedanke an die Akten, der schöne Plan, ihnen eine Wächterin zu geben und sie zu retten, nicht bloß eine Einflüsterung seiner Schwäche, ein Vorwand, den er erfand, um Clotilde wiederzubekommen? Im Grunde war es Egoismus. Er dachte an sich und nicht an sie. Er sah sie wieder in dieses arme Haus zurückkehren, dazu verdammt, einen kranken alten Mann zu pflegen; er sah sie vor allem im Schmerz, entsetzt über seinen Todeskampf, wenn er sie eines Tages tödlich erschreckte, indem er wie vom Blitz getroffen neben ihr niederstürzte. Nein, nein! Diesen schrecklichen Augenblick wollte er ihr ersparen; es waren nur ein paar Tage eines grausamen Abschiednehmens, und danach das Elend, ein trauriges Geschenk, das er ihr nicht machen konnte, ohne sich für einen Verbrecher zu halten. Allein ihre Ruhe, allein ihr Glück waren wichtig – was bedeutete schon alles übrige! Er würde in seinem Winkel sterben, glücklich in dem Glauben, daß sie glücklich war. Was die Rettung seiner Manuskripte betraf, würde er sehen, ob er die Kraft besaß, sich davon zu trennen und sie Ramond zu übergeben. Und selbst wenn alle seine Papiere vernichtet werden sollten, so willigte er darein, und es war ihm recht, daß nichts mehr von ihm existierte, nicht einmal sein Gedankengut, wenn nur nichts mehr von ihm das Leben der geliebten Frau störte.
Pascal machte sich also daran, einen seiner gewohnten Antwortbriefe zu schreiben, die er mit großer Mühe absichtlich nichtssagend und beinahe kalt abfaßte. In ihrem letzten Brief ließ Clotilde, ohne sich über Maxime zu beklagen, durchblicken, daß ihr Bruder kein Interesse mehr an ihr habe, daß Rose, die Nichte von Saccards Friseur, das blonde kleine junge Mädchen mit dem unschuldigen Gesicht, ihn besser zu unterhalten wisse. Und Pascal witterte irgendein Manöver des Vaters, eine wohldurchdachte Erbschleicherei am Krankenbett des Gelähmten, der beim Nahen des Todes wieder in die Laster seiner frühen Jahre verfiel. Aber trotz seiner Besorgnis gab er Clotilde dennoch sehr gute Ratschläge und wiederholte ihr, daß es ihre Pflicht sei, sich bis zum Ende aufzuopfern. Als er seinen Namen unter den Brief
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