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Doktor Pascal - 20

Doktor Pascal - 20

Titel: Doktor Pascal - 20 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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Gesundheitszustand zuweilen beurteilen, hatte er niemals vermutet, daß sein Herz angegriffen sein könnte.
    Als er sich wieder erholte, kam gerade Martine herauf, um ihm zu sagen, Doktor Ramond sei unten und dränge erneut darauf, empfangen zu werden. Und Pascal, der vielleicht einem unbewußten Verlangen nach Klarheit nachgab, rief:
    »Nun gut, soll er heraufkommen, wenn er so hartnäckig darauf besteht! Mich soll es nur freuen.«
    Die beiden Männer umarmten sich, und nur mit einem kräftigen, kummervollen Händedruck spielten sie auf die Abwesende an, deren Fortgang das Haus verwaist zurückgelassen hatte.
    »Wissen Sie, warum ich komme?« rief sogleich Ramond. »Wegen einer Geldangelegenheit … Ja, mein Schwiegervater, Herr Lévêque, der Anwalt, den Sie ja kennen, hat gestern noch einmal mit mir von dem Geld gesprochen, das Sie bei Grandguillot angelegt hatten. Und er gibt Ihnen den dringenden Rat, sich zu rühren, denn einigen Leuten soll es gelungen sein, wenigstens etwas wiederzubekommen.«
    »Aber ich weiß doch, daß die Sache wieder in Ordnung kommt«, sagte Pascal. »Martine hat schon zweihundert Francs erhalten, glaube ich.«
    Ramond schien sehr erstaunt.
    »Wie? Martine? Ohne daß Sie etwas unternommen hätten? Aber wollen Sie nicht meinem Schwiegervater Vollmacht geben, sich mit Ihrem Fall zu befassen? Er wird die Dinge schon ins reine bringen, da Sie ja weder Zeit noch Sinn dafür haben.«
    »Natürlich gebe ich Herrn Lévêque Vollmacht, und sagen Sie ihm, ich danke ihm tausendmal.«
    Als das erledigt war und der junge Mann, der Pascals Blässe bemerkte, ihn nach seinem Befinden fragte, erwiderte er mit einem Lächeln:
    »Stellen Sie sich vor, mein Freund, ich habe vorhin einen Anfall von Angina pectoris gehabt … Nein, das ist keine Einbildung, alle Symptome waren vorhanden … Und da Sie nun schon einmal hier sind, könnten Sie mich vielleicht abhören.«
    Zuerst weigerte sich Ramond und wollte die Untersuchung ins Scherzhafte ziehen. Ob denn ein Rekrut wie er es wagen dürfe, sich über seinen General zu äußern? Aber er untersuchte ihn trotzdem, fand, daß er im Gesicht abgespannt und verängstigt aussah und daß der Blick eigentümlich verstört wirkte. Schließlich hörte er ihn sehr aufmerksam ab und preßte dabei das Ohr lange auf Pascals Brust. Mehrere Minuten vergingen in tiefem Schweigen.
    »Nun?« fragte Pascal, als der junge Arzt sich wieder aufrichtete.
    Ramond antwortete nicht gleich. Er fühlte, wie ihm der Meister prüfend in die Augen blickte. Deshalb wich er ihm nicht aus, sondern erwiderte auf die tapfer und gelassen gestellte Frage unumwunden:
    »Ja, es ist wahr, ich glaube, Sie haben Sklerose.«
    »Ah, das ist nett von Ihnen, daß Sie nicht lügen«, sagte der Doktor. »Ich hatte im ersten Augenblick befürchtet, Sie würden lügen, und das hätte mir weh getan.«
    Ramond hörte noch einmal das Herz ab und sagte halblaut:
    »Ja, der Herzschlag ist kräftig, das erste Geräusch ist dumpf, das zweite dagegen auffallend laut … Man spürt, daß der Herzspitzenstoß sich abschwächt und zur Achsel hin verlagert wird … Sie haben Sklerose, zumindest ist das sehr wahrscheinlich …«
    Dann richtete er sich wieder auf und sagte:
    »Damit kann man zwanzig Jahre leben.«
    »Das kommt sicher vor«, sagte Pascal. »Wenn man nicht auf der Stelle stirbt, wie vom Blitz getroffen.«
    Sie unterhielten sich noch eine Weile, sie sprachen über einen eigenartigen Fall von Herzsklerose, den man im Krankenhaus von Plassans beobachtet hatte. Und als der junge Arzt aufbrach, versprach er wiederzukommen, sobald er Neues über die Geschichte mit Grandguillot wüßte.
    Als Pascal allein war, fühlte er sich verloren. Alles war nun klar, das Herzklopfen, das er seit einigen Wochen hatte, seine Schwindelanfälle, seine Atembeklemmungen; und vor allem täuschte er sich jetzt nicht mehr über das Gefühl unendlicher Mattigkeit und des nahe bevorstehenden Endes hinweg: sein von Leidenschaft und Arbeit überanstrengtes armes Herz war verbraucht. Trotzdem empfand er noch keine Furcht. Sein erster Gedanke war, daß auch er nun der Vererbung Tribut zahlen müsse, daß die Sklerose, diese Form von Degeneration, sein Anteil an der physiologischen Schwäche sei, das unvermeidliche Vermächtnis seiner schrecklichen Vorfahren. Bei den einen hatte sich die Nervenkrankheit, die ursprüngliche Schädigung, in Laster oder Tugend, in Genie, Verbrechen, Trunksucht oder Heiligkeit verwandelt; andere waren als

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