Doktor Pascal - 20
ergriff die Hände des jungen Mannes und drückte sie überschwenglich.
»Ach, mein Freund, wenn Sie wüßten, wie glücklich ich bin! Dieser Brief von Clotilde bringt mir ein großes Glück. Ja, ich wollte sie gerade zu mir zurückrufen, doch der Gedanke an meine Armut, an die Entbehrungen, die ich ihr auferlegen müßte, verdarb mir die Freude auf ihre Rückkehr … Und da bekomme ich nun mein Vermögen wieder, wenigstens so viel, daß ich für meine kleine Familie aufkommen kann.«
Im Überschwang seiner Freude reichte er Ramond den Brief und drängte ihn zu lesen. Als ihm der junge Mann den Brief zurückgab, lachend und tief bewegt, Pascal so erschüttert zu sehen, gab er einem überströmenden Zärtlichkeitsbedürfnis nach und schloß ihn in seine starken Arme wie einen Kameraden, wie einen Bruder. Die beiden Männer küßten sich kräftig auf die Wangen.
»Da das Glück Sie zu mir schickt, will ich Sie gleich noch um einen Dienst bitten. Sie wissen, daß ich hier allen mißtraue, selbst meinem alten Dienstmädchen. Deshalb sollen Sie mir meine Depesche zum Telegraphenamt bringen.«
Er hatte sich wieder an seinen Tisch gesetzt und schrieb nur kurz: »Ich erwarte Dich, reise noch heute abend.«
»Wir haben heute den 6. November, nicht wahr?« begann er wieder. »Es ist gleich zehn Uhr, sie wird meine Depesche gegen Mittag haben. Also hat sie genug Zeit, ihre Koffer zu packen und heute abend um acht Uhr den Schnellzug zu nehmen, mit dem sie morgen gegen Mittag in Marseille ankommt. Doch da sie nicht sofort Anschluß hat, kann sie morgen, am 7. November, erst mit dem FünfUhrZug hiersein.«
Er faltete die Depesche zusammen und stand auf.
»Mein Gott! Morgen um fünf Uhr! … Wie lange ist das noch hin! Was tue ich nur inzwischen?«
Da kam ihm ein sorgenvoller Gedanke, und er sagte ernst:
»Ramond, mein Freund, wollen Sie mir die Liebe erweisen und ganz offen zu mir sein?«
»Was meinen Sie damit, Meister?«
»Ja, Sie verstehen mich schon richtig … Neulich haben Sie mich untersucht. Denken Sie, daß ich es noch ein Jahr schaffen werde?«
Und er hielt den Blick fest auf den jungen Mann gerichtet und hinderte ihn so, die Augen abzuwenden. Ramond jedoch versuchte scherzend auszuweichen: War er denn überhaupt ein Arzt, daß er ihm eine solche Frage stellte?
»Ich bitte Sie, Ramond, reden wir ernsthaft miteinander.«
Da antwortete ihm Ramond in aller Aufrichtigkeit, er könne seiner Meinung nach sehr wohl die Hoffnung nähren, noch ein Jahr zu leben. Er nannte seine Gründe, den relativ wenig fortgeschrittenen Zustand der Sklerose und die vollkommene Gesundheit der anderen Organe. Gewiß müsse man auch mit dem Unbekannten rechnen, denn es sei immer möglich, daß eine plötzliche Komplikation eintrete. Und beide erörterten den Fall schließlich ebenso ruhig, als berieten sie sich am Lager eines Kranken, erwogen das Für und das Wider, führten jeweils ihre Argumente an und bestimmten im voraus den Zeitpunkt für den tödlichen Ausgang auf Grund der eindeutigsten, unmißverständlichsten Anzeichen.
Als ginge es nicht um ihn selbst, hatte Pascal seine Kaltblütigkeit, seine Selbstverleugnung wiedergewonnen.
»Ja«, murmelte er schließlich, »Sie haben recht, ich könnte vielleicht noch ein Jahr leben … Ach, sehen Sie, mein Freund, was ich mir wünschte, das wären zwei Jahre – sicherlich ein törichter Wunsch, eine Ewigkeit der Freude …«
Und sich diesem Zukunftstraum hingebend, fuhr er fort:
»Das Kind wird gegen Ende Mai geboren … Es wäre so schön, wenn ich noch ein wenig sehen könnte, wie es heranwächst, bis es achtzehn, zwanzig Monate alt ist, nicht länger! Nur so lange, bis es sich geistig etwas entwickelt und seine ersten Schritte macht … Ich verlange nicht viel, ich möchte nur gerne sehen, wie es läuft, und dann, mein Gott, dann …«
Er vollendete seinen Gedanken mit einer Gebärde. Von seinem Wunschtraum überwältigt, sagte er dann:
»Aber zwei Jahre, das ist ja auch nicht unmöglich. Ich hatte da einen erstaunlichen Fall, ein Stellmacher aus der Vorstadt, der noch vier Jahre gelebt und all meine Voraussagen über den Haufen geworfen hat … Zwei Jahre, zwei Jahre, ich werde so lange leben! Ich muß so lange leben!«
Ramond senkte den Kopf und antwortete nicht mehr. Ratlosigkeit überkam ihn bei dem Gedanken, daß er sich allzu optimistisch gezeigt haben könnte; und die Freude des Meisters beunruhigte ihn, sie bereitete ihm Schmerz, als hätte ebendiese
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