Doktor Pascal - 20
Überschwenglichkeit, die einen früher so gesunden Verstand trübte, ihm eine heimliche und unmittelbar drohende Gefahr angekündigt.
»Wollten Sie nicht die Depesche sofort abschicken?«
»Ja, ja! Gehen Sie schnell, mein guter Ramond, ich erwarte Sie übermorgen. Dann ist Clotilde da, und ich möchte, daß Sie kommen und uns umarmen.«
Der Tag war lang. Und in der Nacht wurde Pascal gegen vier Uhr, nachdem er, glücklich und von Hoffnungen und Träumen erfüllt, lange schlaflos gelegen hatte und endlich eingeschlafen war, jäh und unerwartet von einem schrecklichen Anfall geweckt. Ihm war, als läge eine ungeheure Last, das ganze Haus auf seiner Brust und zermalmte sie. Er bekam keine Luft mehr, der Schmerz griff auf Schultern und Hals über und lähmte den linken Arm. Im übrigen war er vollständig bei Bewußtsein; er hatte das Empfinden, daß sein Herz stehenblieb, daß sein Leben im Begriff war, in dieser furchtbaren Umklammerung durch einen Schraubstock, die ihn ersticken ließ, zu verlöschen. Bevor der Anfall seinen Höhepunkt erreichte, hatte er die Kraft gehabt, aufzustehen und mit einem Stock auf den Fußboden zu klopfen, um Martine heraufzurufen. Dann war er wieder auf sein Bett gesunken, in kalten Schweiß gebadet, nicht mehr imstande, sich zu rühren oder zu sprechen.
In der großen Stille des leeren Hauses hatte ihn Martine glücklicherweise gehört. Sie zog sich an, hüllte sich in ein Umschlagtuch und ging mit ihrer Kerze rasch hinauf. Noch war tiefe Nacht, doch bald würde die Morgendämmerung anbrechen. Und als sie ihren Herrn erblickte, an dem nur noch die Augen lebten und der sie ansah, die Kinnbacken fest aufeinandergepreßt, unfähig zu sprechen, das Gesicht von Todesangst verzerrt, war sie entsetzt und fassungslos, konnte nur noch auf das Bett zustürzen und rufen:
»Mein Gott! Mein Gott! Herr Doktor, was haben Sie denn? Antworten Sie mir doch, Herr Doktor, Sie machen mir angst!«
Eine lange Minute rang Pascal immer verzweifelter mit dem Ersticken, und es gelang ihm nicht, wieder zu Atem zu kommen. Dann lockerte sich nach und nach der Schraubstock um seine Rippen, und er murmelte ganz leise:
»Die fünftausend Francs im Sekretär gehören Clotilde … Sagt ihr, daß beim Notar alles geregelt ist, daß sie dort alles wiederfindet, was sie zum Leben braucht …«
Martine, die ihm sprachlos zugehört hatte, war verzweifelt und gestand ihre Lüge, denn sie wußte nichts von den guten Nachrichten, die Ramond gebracht hatte.
»Herr Doktor, Sie müssen mir verzeihen, ich habe gelogen. Aber es wäre schlecht von mir, noch weiter zu lügen … Als ich sah, wie Sie so einsam und so unglücklich waren, da habe ich von meinem Geld genommen …«
»Meine arme Gute, das habt Ihr getan!«
»Oh, natürlich habe ich ein bißchen gehofft, daß der Herr Doktor es mir eines Tages wiedergeben würde!«
Der Anfall ließ nach. Pascal konnte den Kopf wenden und sie ansehen. Er war verblüfft und gerührt. Was war nur im Herzen dieses geizigen alten Mädchens vor sich gegangen, das dreißig Jahre lang mühsam seinen Schatz aufgehäuft, das niemals einen Sou davon genommen hatte, weder für andere noch für sich selbst? Er begriff noch immer nicht, er wollte sich einfach dankbar und gütig zeigen.
»Ihr seid eine brave Frau, Martine. Ihr sollt das alles zurückbekommen … Ich glaube sicher, daß ich sterbe …«
Sie ließ ihn nicht zu Ende reden, ihr ganzes Wesen empörte sich in einem Protestschrei dagegen.
»Sterben, Sie, Herr Doktor! Vor mir sterben! Ich will nicht, ich werde alles tun, ich werde es gewiß verhindern!«
Und sie warf sich vor dem Bett auf die Knie, faßte ihn mit angstbebenden Händen, befühlte ihn, um herauszufinden, wo es ihm weh tat, und hielt ihn fest, als hoffte sie, daß niemand wagen würde, ihn ihr zu nehmen.
»Sie müssen mir sagen, was Sie haben, ich werde Sie pflegen, ich werde Sie retten. Wenn es nötig ist, daß ich Ihnen von meinem eigenen Leben gebe, so will ich es tun, Herr Doktor … Ich kann sehr gut meine Tage und meine Nächte drangeben, ich bin noch stark, ich werde stärker sein als die Krankheit, Sie werden sehen …
Sterben, sterben, ach nein, das ist nicht möglich! Der liebe Gott kann doch nicht solch eine Ungerechtigkeit wollen. Ich habe in meinem Leben so viel zu ihm gebetet, daß er mich jetzt anhören muß, und er wird mich erhören, Herr Doktor, er wird Sie retten!«
Pascal sah sie an, hörte ihr zu, und ihm wurde plötzlich alles klar. Sie liebte
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