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Doktor Pascal - 20

Doktor Pascal - 20

Titel: Doktor Pascal - 20 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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elf Uhr schien Félicité, die in einem Lehnstuhl wachte, unruhig zu werden; sie ging aus dem Zimmer und kam dann zurück. Von nun an war ein ungeduldiges Kommen und Gehen um die junge Frau herum, die noch immer wach war und mit ihren großen Augen starr vor sich hin blickte. Es schlug Mitternacht, ein einziger Gedanke hatte sich in ihrem leeren Kopf festgesetzt wie ein bohrender Schmerz, der sie am Einschlafen hinderte: Warum war sie gehorsam gewesen? Wäre sie geblieben, so hätte sie ihn mit all ihrer Jugend gewärmt, und er wäre nicht gestorben! Und erst kurz vor ein Uhr fühlte sie, wie selbst dieser Gedanke sich verwirrte und in einen Alptraum überging. Erschöpft von Schmerz und Müdigkeit, sank sie in bleiernen Schlaf.
    Als Martine zu der alten Frau Rougon gegangen war, um ihr den unerwarteten Tod ihres Sohnes mitzuteilen, hatte diese in ihrem ersten Schreck, ungeachtet ihres Schmerzes, zornig aufgeschrien. Der sterbende Pascal hatte sie nicht sehen wollen, hatte das Dienstmädchen schwören lassen, sie nicht zu benachrichtigen! Das traf sie bis ins Mark, als sollte der Kampf, der das ganze Leben lang zwischen ihr und Pascal gewährt hatte, über das Grab hinaus fortdauern. Nachdem sie sich hastig angekleidet hatte und zur Souleiade geeilt war, versetzte sie der Gedanke an die schrecklichen Akten, an all die Manuskripte, die den Schrank füllten, in leidenschaftliche Erregung. Jetzt, da Onkel Macquart und Tante Dide tot waren, fürchtete sie nicht mehr die Schande von Les Tulettes, wie sie es nannte; und auch der arme kleine Charles hatte mit seinem Dahinscheiden einen der Makel mit sich genommen, die für die Familie so demütigend waren. Es blieben nur noch die Akten, nur die abscheulichen Akten bedrohten noch die triumphale Legende der Rougons, die zu begründen sie ihr ganzes Leben drangesetzt hatte; diese Legende war die einzige Sorge ihres Alters, dem Triumph dieses Werkes widmete sie hartnäckig die letzten Anstrengungen ihres rastlosen und gerissenen Verstandes. Seit langen Jahren war sie unermüdlich hinter den Akten her, hatte den Kampf wieder aufgenommen, wenn man sie besiegt glaubte, lag stets ausdauernd auf der Lauer. Ach, wenn sie sich ihrer doch endlich bemächtigen könnte, um sie zu vernichten! Das wäre die Vernichtung der abscheulichen Vergangenheit, das wäre der so schwer erkämpfte Ruhm der Ihren, der sich dann, frei von jeder Bedrohung, endlich ungehindert entfalten und der Geschichte seine Lüge aufzwingen könnte! Und sie sah sich bereits in der Haltung einer Königin durch die drei Stadtviertel von Plassans schreiten, von allen gegrüßt, in würdevoller Trauer um das gestürzte Kaiserreich. Und weil Martine ihr gesagt hatte, daß Clotilde da sei, beschleunigte sie ihren Schritt, als sie sich der Souleiade näherte, getrieben von der Furcht, zu spät zu kommen.
    Kaum hatte sich Félicité im Hause eingerichtet, erholte sie sich sehr rasch von ihrem Schreck. Nichts drängte zur Eile, man hatte die ganze Nacht vor sich. Dennoch wollte sie unverzüglich Martine auf ihre Seite bringen; und sie wußte sehr gut, was auf dieses einfältige Geschöpf, das in den Anschauungen einer engen Religion befangen war, wirken würde. Ihre erste Sorge war es daher, unten in der Küche, wo sie beim Braten des Hühnchens zusah, tiefe Verzweiflung zur Schau zu tragen bei dem Gedanken, daß ihr Sohn gestorben sein könnte, ohne daß er seinen Frieden mit der Kirche gemacht hatte. Sie fragte das Dienstmädchen aus, wollte Einzelheiten wissen. Doch Martine schüttelte verzweifelt den Kopf: Nein, es sei kein Priester gekommen, der Herr Doktor habe sich nicht einmal bekreuzigt. Sie allein sei niedergekniet, um die Sterbegebete zu sprechen, was für das Heil seiner Seele gewiß nicht genügen könne. Doch mit welcher Inbrunst habe sie zum lieben Gott gebetet, damit der Herr Doktor geradewegs ins Paradies käme!
    Die Augen auf das Hühnchen gerichtet, das vor einem großen hellen Feuer am Spieß gebraten wurde, sagte Félicité leiser, mit abwesendem Ausdruck:
    »Ach, du armes Kind! Was ihn vor allem hindert, ins Paradies zu kommen, das sind die abscheulichen Papiere, die der Unglückliche dort oben in dem Schrank zurückgelassen hat. Ich kann nicht begreifen, daß noch kein Blitzstrahl vom Himmel in diese Papiere gefahren ist, um sie in Asche zu verwandeln. Wenn sie Fremden in die Hände fallen, so bedeutet das Pest und Schande und die ewige Hölle!«
    Ganz bleich hörte Martine zu.
    »Dann glaubt Madame

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