Doktor Pascal - 20
Sie zu tun haben?«
Clotilde versuchte sich zu besinnen. Sie antwortete:
»Was ich zu tun habe? Wegen der Papiere, nicht wahr? Ja, ja! Ich erinnere mich, ich soll die Akten behalten und Ihnen die anderen Manuskripte geben … Haben Sie keine Angst, ich bin bei klarem Verstand, ich werde sehr vernünftig sein. Aber ich will ihn nicht verlassen, ich werde die Nacht hier ganz ruhig verbringen, das verspreche ich Ihnen.«
Sie war so schmerzlich bewegt und schien so fest entschlossen, bei ihm zu wachen, bei ihm zu bleiben, bis man ihn hinaustrug, daß der Arzt sie gewähren ließ.
»Nun gut! Dann lasse ich Sie jetzt allein, ich werde zu Hause erwartet. Außerdem sind alle möglichen Formalitäten zu erledigen, die Todeserklärung, das Begräbnis, Sie sollen sich darum nicht kümmern müssen. Machen Sie sich keine Sorgen. Morgen früh, wenn ich wiederkomme, ist alles geregelt.«
Er umarmte sie noch einmal und ging dann fort. Und jetzt erst verschwand auch Martine; hinter Ramond ging sie hinaus, verschloß unten die Tür und eilte durch die dunkle Nacht.
Nun war Clotilde allein in dem Zimmer, und um sich her, unter sich, inmitten der tiefen Stille spürte sie die Leere des Hauses. Clotilde war allein mit dem toten Pascal. Sie hatte ihren Stuhl an das Kopfende des Bettes gerückt und saß dort reglos und einsam. Bei ihrer Ankunft hatte sie nur ihren Hut abgenommen; später zog sie auch ihre Handschuhe aus, als sie merkte, daß sie sie anbehalten hatte. Doch sie saß dort noch im Reisekleid, das von der zwanzigstündigen Eisenbahnfahrt staubig und zerknittert war. Sicher hatte Vater Durieu schon längst die Koffer unten abgestellt; aber Clotilde kam weder auf den Gedanken, noch hatte sie die Kraft, sich zu waschen und sich umzukleiden; gänzlich vernichtet saß sie auf dem Stuhl, auf den sie niedergesunken war. Verzweifelt machte sie sich bittere Vorwürfe. Warum war sie gehorsam gewesen? Warum hatte sie in die Reise eingewilligt? Wenn sie geblieben wäre, davon war sie fest überzeugt, dann wäre er nicht gestorben. Sie hätte ihn so geliebt, so zärtlich umsorgt, daß sie ihn gesund gemacht hätte. Jeden Abend hätte sie ihn in die Arme genommen, um ihn in den Schlaf zu wiegen, hätte ihn mit all ihrer Jugend gewärmt und ihm mit ihren Küssen von ihrem Leben eingehaucht. Wenn man nicht wollte, daß einem der Tod ein geliebtes Wesen raubte, so blieb man da, um von seinem eigenen Blut zu geben, und schlug den Tod in die Flucht. Es war ihre Schuld, wenn sie Pascal verloren hatte, wenn sie ihn nicht mehr mit einer Umarmung aus dem ewigen Schlaf zu erwecken vermochte. Und sie schalt sich dumm, daß sie nicht begriffen, und feige, daß sie sich nicht aufgeopfert hatte, schuldig und für alle Zeiten dafür gestraft, daß sie fortgegangen war, wo doch wenn nicht das Herz, so der einfache Menschenverstand ihr hätte sagen müssen, daß es ihre Aufgabe als demütige und zärtliche Untertanin war, dazubleiben und über ihren König zu wachen.
Es war so vollkommen still ringsum, daß Clotilde einen Moment die Augen von Pascals Antlitz löste und sich im Zimmer umschaute. Sie sah nur undeutliche Schatten: der Schein der Lampe fiel schräg auf den großen Wandspiegel, der einer matten Silberscheibe glich, und die beiden Kerzen bildeten nur zwei fahle Flecken unter der hohen Zimmerdecke. In diesem Augenblick mußte sie wieder an die kurzen, frostigen Briefe denken, die Pascal ihr geschrieben hatte, und sie begriff, welche Qual es für ihn gewesen war, seine Liebe zu ersticken. Welche Kraft hatte er aufbringen müssen, um das erhabene und zugleich verhängnisvolle Vorhaben zu verwirklichen, mit dem er sie glücklich machen wollte! Er wollte aus dem Leben scheiden, um sie vor seinem Alter und vor seiner Armut zu retten; er träumte davon, sie könnte reich werden und fern von ihm ihre sechsundzwanzig Jahre genießen: das war die vollkommene Selbstverleugnung, das gänzliche Aufgehen in der Liebe zum anderen. Und sie empfand darüber tiefe Dankbarkeit und Rührung, in die sich gereizte Bitterkeit gegen das böse Schicksal mischte. Dann plötzlich wurde die Erinnerung an die glücklichen Jahre in ihr wach, an ihre Jugend, an ihre Mädchenzeit bei ihm, dem Gütigen, dem Heiteren. Wie er sie langsam durch seine innige Liebe eroberte, wie sie sich als die Seine fühlte nach aller Auflehnung, die sie zeitweilig entzweite, in welchem Freudenausbruch sie sich ihm schenkte, um noch mehr und gänzlich ihm zu gehören, da er sie doch begehrte!
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