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Doktor Pascal - 20

Doktor Pascal - 20

Titel: Doktor Pascal - 20 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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In diesem Zimmer, in dem sein Leichnam jetzt erkaltete, spürte sie noch die Wärme und das Erschauern ihrer Liebesnächte.
    Die Stutzuhr schlug sieben, und Clotilde fuhr bei diesem leisen Klang in der großen Stille zusammen. Wer hatte gesprochen? Sie besann sich und schaute auf die Stutzuhr, deren Glockenschlag so viele Stunden der Freude verkündet hatte. Diese alte Stutzuhr hatte die zitternde Stimme einer sehr alten Freundin, an der sie ihren Spaß hatten, wenn sie im Dunkel wach lagen und sich umfangen hielten. Und alle Möbelstücke riefen jetzt Erinnerungen in ihr wach. Ihrer beider Bild schien auf dem blassen silbernen Grund des großen Wandspiegels wiederzuerstehen: undeutlich, fast verschwommen, trat es mit einem schwebenden Lächeln daraus hervor wie in den zauberhaften Tagen, da Pascal sie vor den Spiegel führte, um sie mit einem Geschmeide zu schmücken, das er in seiner närrischen Freude am Schenken seit dem Morgen versteckt hielt. Da war auch der Tisch, auf dem die beiden Kerzen brannten, der kleine Tisch, an dem sie ihr ärmliches Abendessen eingenommen hatten an jenem Tage, da es ihnen an Brot fehlte und sie ihm ein königliches Festmahl bereitete. Wie viele Brosamen ihrer Liebe würde sie in der Kommode mit der von einer Randleiste eingefaßten weißen Marmorplatte wiederfinden? Und wie herzlich hatten sie auf der Chaiselongue mit den steifen Füßen gelacht, wenn sie ihre Strümpfe darauf legte und er sie neckte! Selbst von der Wandbespannung, von der alten ausgeblichenen roten Indienne, die jetzt rosa geworden war, drang ein Flüstern zu ihr, all die lustigen und zärtlichen Worte, die sie einander gesagt hatten, die endlosen Kindereien ihrer Liebe, sogar der Veilchenduft ihres Haars, den er so liebte. Als dann die sieben Schläge der Stutzuhr, die so lange in ihrem Herzen nachzitterten, verklungen waren, blickte sie wieder auf das reglose Antlitz Pascals, und von neuem fühlte sie ihr Leben ausgelöscht.
    In diesem Zustand wachsender Erschöpfung vernahm Clotilde einige Minuten später plötzlich ein Schluchzen. Wie ein Windstoß war jemand hereingekommen, sie erkannte ihre Großmutter Félicité. Doch vom Schmerz wie erstarrt, rührte sie sich nicht und sagte kein Wort. Martine war, bevor man ihr noch den Auftrag gegeben hatte, zu der alten Frau Rougon gelaufen, um ihr die furchtbare Nachricht mitzuteilen; und Félicité, zunächst erstaunt über das so rasch eingetretene Unglück, dann erschüttert, eilte laut klagend herbei. Schluchzend trat sie an das Totenbett ihres Sohnes und umarmte Clotilde, die ihr wie im Traum einen Kuß auf die Wange drückte. Ohne sich aus ihrer tiefen Niedergeschlagenheit zu lösen, in der sie die Umwelt vergaß, spürte Clotilde von diesem Augenblick an sehr wohl, daß sie nicht mehr allein war; sie merkte es an dem ständigen gedämpften Hin und Her, dessen leise Geräusche bald hier, bald da im Zimmer zu hören waren. Auf Zehenspitzen kam Félicité herein, ging wieder hinaus, weinte, schaffte Ordnung, schnüffelte herum, flüsterte, sank auf einen Stuhl, um sogleich wieder aufzustehen. Und gegen neun Uhr wollte sie ihre Enkelin unbedingt dazu bringen, etwas zu essen. Zweimal schon hatte sie ihr ganz leise Vorhaltungen gemacht. Jetzt kam sie wieder und flüsterte ihr ins Ohr:
    »Clotilde, mein Liebling, du tust wirklich unrecht … Du mußt Kräfte sammeln, sonst hältst du nicht durch.«
    Doch mit einer Kopfbewegung beharrte die junge Frau auf ihrer Weigerung.
    »Hör doch, du hast sicher in Marseille im Bahnhofsrestaurant zu Mittag gegessen, nicht wahr, und seitdem hast du nichts mehr zu dir genommen … Ist das etwa vernünftig? Du darfst doch nicht auch noch krank werden … Martine hat Fleischbrühe. Ich habe ihr gesagt, sie soll eine leichte Suppe kochen und ein Hühnchen dazugeben … Geh hinunter und iß ein bißchen, nur ein bißchen, ich bleibe solange hier.«
    Mit der gleichen leidenden Kopfbewegung weigerte Clotilde sich wiederum. Schließlich stammelte sie:
    »Laß mich, Großmutter, ich flehe dich an … Ich könnte doch nicht essen, ich würde daran ersticken.«
    Dann sagte sie kein Wort mehr. Sie schlief jedoch nicht, sie hatte die Augen weit offen und schaute mit starrem Blick unverwandt auf Pascals Antlitz. Stundenlang machte sie keine Bewegung mehr, saß gerade aufgerichtet und reglos da, wie abwesend, als wäre sie mit dem Toten in weite Ferne entrückt. Um zehn Uhr vernahm sie ein Geräusch: Martine brachte die Lampe wieder herauf. Gegen

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